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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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mich. Mein Körper sehnt sich nach Schlaf, aber wenn ich diesem Bedürfnis jetzt, mitten am Tag, nachgebe, gerate ich die ganze kommende Woche aus dem Rhythmus.
    Ich ziehe eine Windjacke über, hole mein Fahrrad vom Innenhof und schiebe es durch Küche und Wohnzimmer hinaus auf die Straße.
    Draußen liegt der Geruch nach feuchtem Beton und moderndem Laub in der Luft. Es weht ein kräftiger Wind, und über der Stadt hängen dicke Wolken. Der Sommer ist jetzt endgültig vorüber.
    Bis zum Seringenhof, einer verkehrsberuhigten Vorstadtstraße, braucht man mit dem Fahrrad keine Viertelstunde. Die anderthalbgeschossigen Häuser sind mit braunen Ziegeln gedeckt und grenzen mit den Garagen aneinander, sodass sich die Nachbarn kaum gegenseitig stören. Vor den Häusern stehen Laternen mit schüsselförmigen Lampenschirmen, und die Bürgersteige werden von japanischen Zierkirschen gesäumt. Wenn die Bäume Ende April blühen, bedecken die welkenden rosa Blütenblätter noch lange danach die Straße.
    Vor zehn Jahren sind wir hierher gezogen: meine Eltern, meine zwei jüngeren Brüder Charles und Dennis und ich. Noch während meines Pädagogikstudiums habe ich zu Hause gewohnt und mir erst, als ich an der Gesamtschule in der Innenstadt eine Stelle als Französischlehrerin fand, eine eigene Wohnung gesucht. Das war ein Jahr, nachdem Charles mit seinem Freund nach Amsterdam gezogen war.
    Es scheint, als sei niemand zu Hause. Das Auto steht nicht vor der Tür, und die Jalousien sind zwar aufgedreht, aber nicht hochgezogen. Wenn meine Eltern zu Hause sind, kann man von der Straße aus mitten durchs Haus bis in den Garten schauen.
    Meine Mutter liebt Licht und Offenheit und legt keinen großen Wert auf Privatsphäre. »Ich habe nichts zu verbergen«, pflegt sie zu sagen.
    Ich gehe den Weg zur Haustür entlang, lege meine hohle Hand an das Küchenfenster und blicke hinein. Auf der Anrichte stehen Kaffeetassen, und auf der kleinen Theke zwischen Küche und Wohnzimmer liegt eine aufgeschlagene Zeitung.
    Die Zeitung.
    Als ihre einzige Tochter dort anfing, haben meine Eltern die Zeitung sofort abonniert. Sie hofften auf Titelseiten-Artikel, die in der Nachbarschaft Aufsehen erregen würden, mussten ihre Erwartungen jedoch bald herunterschrauben, genau wie ich. Über meinen Ministücken stand oft nicht einmal mein Name, sondern nur: »von unserer Redakteurin«, oder, schlimmer noch, »von einem unserer Redakteure«.
    Pro forma klingele ich und rüttele an der Durchgangstür im Garagentor. Nein, sie sind nicht da.
    »Eva? Bist du das?«
    Auf der Auffahrt neben der meiner Eltern steht unsere Nachbarin Martha Pieters mit ihrem Rauhaardackel auf dem Arm. Sie trägt eine lange Strickjacke zu einer beigefarbenen Hose und Mokassins. Martha war einmal mit einem Chirurgen verheiratet. Darauf scheint sie großen Wert zu legen, so oft, wie sie es erzählt, sogar völlig Unbekannten.
    »Deine Eltern sind nicht da. Sie sind in die Stadt gefahren!«, ruft sie schrill. »Dein Vater braucht eine neue Brille, und deine Mutter muss einen Mantel umtauschen.«
    So viel zur Privatsphäre. »Ah, vielen Dank, dann komme ich später wieder!«
    »Soll ich dir eine Tasse Tee kochen? Sonst bist du das ganze Stück ganz umsonst gefahren. Ich glaube, es fängt auch gleich an zu regnen.«
    »Macht nichts«, erwidere ich und ziehe mich Schritt für Schritt zum Weg zurück. »Ich bin gerne mit dem Rad unterwegs.« Ich winke Martha übertrieben freundlich zu und überhöre ihre weiteren Einwände.
    Martha hatte recht: Kaum bin ich wieder auf der Straße, fängt es an zu tröpfeln, und ich muss im Regen nach Hause fahren.

3
    Es ist sieben Uhr abends, und unten im Haus riecht es nach Frittenfett. Ich werfe die Plastikschälchen aus der Imbissbude in den Mülleimer, trinke den letzten Rest Bier aus und stelle die Flasche in einen Kasten auf dem Innenhof. Drei weitere leere Bierkästen stehen neben dem Regenfallrohr – im Sommer habe ich sie als Sitzgelegenheiten benutzt.
    Obwohl ich nur ein Bier getrunken habe, fühle ich mich ein bisschen beschwipst. Erschöpft atme ich die feuchte Stadtluft ein und blicke mich um. Mitleid erregende Usambaraveilchen – ein Geschenk meiner Mutter – in einem Balkonblumenkasten, eine halb vermoderte Fußmatte mit der Aufschrift » HOME , SWEET HOME «, ein zusammengefaltetes Stück PVC -Boden und Kartons voller Altpapier. Zwischen den Platten wuchern Moos und Gras.
    Ein zufälliger Passant, der den Typ Hausbewohner hätte erraten

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