Verfallen
beieinander übernachteten. Wir hatten jede Menge Spaß, redeten über Männer, kommentierten die Sendungen im Fernsehen – wie Teenager. Bis durch ein Interview mit einem Rapper – ich weiß nicht mehr, wer es war –, bei dem es ausschließlich um Autos und teure Designerkleidung ging, die Stimmung plötzlich umschlug.
»Ich kann das nicht mehr mit ansehen!«, rief sie. »Guck dir das an! Guck dir an, was der Kerl da macht!«
Ich guckte.
»Und, was siehst du?«, fragte sie drängend.
»Jemanden, der stolz ist auf sein Haus und auf das, was er erreicht hat?«
Sie verdrehte die Augen. »Was du da siehst, ist ein Werbeblock. Begreifst du das nicht? Du kannst Gift drauf nehmen, dass dieser Rapper einen Haufen Kohle dafür bekommt, dass er die ganze Zeit seine Pepsi in der Hand hält.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »In deinem Oberstübchen hat sich schon festgesetzt: Pepsi gleich reich gleich cool. Alle beneiden den Typen. Jeder will auch so ein Haus und genauso viel Geld wie er. Also …«
Aber ich wollte gar nicht so werden wie der Rapper. Plötzlich überkam mich eine tiefe Müdigkeit. Dabei war das erst der Anfang, sie lief sich gerade erst warm.
»Das ist die Quintessenz«, fuhr sie fort und strich sich eine gebleichte Locke aus der Stirn. »Darum dreht sich alles: Du glaubst, du würdest deine eigenen Entscheidungen treffen und selbst entscheiden, was dir schmeckt und was dir gefällt, während du in Wirklichkeit von deinem Unterbewusstsein und deinen Gefühlen gesteuert wirst. Die ganze Wirtschaft lebt von unserem massenhaften, stumpfsinnigen Herdenverhalten.«
Ich trank einen Schluck von meiner Bacardi-Cola. Keine Markencola oder Pepsi, nein, ein No-Name-Produkt vom Discounter, aus Vernunftgründen, weil ich wenig Geld hatte. Aber ganz unrecht hatte sie trotzdem nicht. In ihren Argumentationen steckte immer ein Quäntchen Wahrheit. Bacardi war im Grunde genommen auch nur Rum.
Wütend deutete Dianne auf den Fernseher, wo inzwischen ein anderer Rapper seinen Swimmingpool und den Inhalt seines Ankleidezimmers zeigte. »Je mehr teure Dinge man besitzt, desto besser. Das ist die Botschaft, stimmt’s? Kaufen, kaufen. Also, was tun wir? Wir schicken unsere kleinen Kinder in die Krippe, damit beide Partner arbeiten gehen und neue Sachen kaufen können. Wir arbeiten uns halb tot, um uns neben dem neuen Auto und der Sofagarnitur auch noch ein paar Wochen Frankreich oder Türkei leisten zu können – weil man schließlich ›auftanken‹ muss. Wie krank ist das denn? Arbeiten, um Urlaub machen zu können, bei dem man sich von der Arbeit erholt? Da muss man schon eine ordentliche Gehirnwäsche abbekommen haben!«
Das ließ ich einen Moment sacken. Ich nickte nur.
»Willst du dir mal ansehen, wie es um uns bestellt ist?«, fragte sie und blitzte mich zornig an. »Dann geh mal an einem verkaufsoffenen Sonntag in ein Möbelhaus. Da laufen wir dann alle schön im Gänsemarsch hintereinander her, weil wir nicht mehr wissen, was wir sonst tun sollen.«
Ich fing an zu lachen. Ich konnte nicht anders. »Jetzt hör aber auf! Du lebst doch nicht so, oder? Und ich auch nicht.«
Sie war geladen, auf dem Kriegspfad. »Und wie viele Leute kennst du, die in etwa so leben? Oder die so denken?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. Und fügte dann nach kurzem Nachdenken hinzu: »Ziemlich viele, befürchte ich.«
»Weißt du, was das Traurige ist? Genau das verstehen wir unter einem guten Leben. Und bilden uns ein, wir seien frei. In Wirklichkeit sind wir in einem effizienten, nimmermüden Mechanismus gefangen, der von unser aller Blindheit, Habgier, Angst und Dummheit angetrieben wird.«
Diese flammende Rede hatte ich schon öfter von ihr gehört, wenn auch mit leichten Variationen in der Wortwahl. Es war eines ihrer Lieblingsthemen aus einem gut sortierten Angebot. Dabei wurden ihre Argumente immer schlagkräftiger. Ich beneidete Dianne um ihre Energie, die Tatkraft und Leidenschaft, die sich hinter jedem Wort verbargen, wehrte mich aber dagegen, dass sie so über mich herzog. Zu oft vermittelte sie mir das Gefühl, dass auch ich zur Herde der folgsamen Schafe gehörte.
»… wir haben uns einfach daran gewöhnt«, fuhr sie fort. »Unsere Kultur hat sich in diese Richtung entwickelt. Aber stell dir mal vor, wir wären an etwas ganz anderes gewöhnt? Wir wären in einer Welt ohne mächtige Konzerne und ohne Propaganda aufgewachsen?« Sie erwartete keine Antwort und redete weiter. »Was wir als
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