Verfallen
lange sie ihre Schwangerschaft noch vor Bernard würde verbergen können. Wie lange sie noch den Schein wahren konnte, dass ihre Ehe glücklich sei und sie erfülle. Bald schon würde sie es ihm beichten müssen. Bald würde sie allen Mut zusammenraffen und ihm sagen, dass sie ihn liebte, aber ihr das allein nicht mehr genügte. Die Liebe, die sie für ihn empfand, glich eher der einer Schwester für den Bruder. Sie war vergleichbar mit einer engen Freundschaft. Aber sie war nicht stark genug, als dass sie ihr Leben weiterhin mit Bernard hätte teilen wollen. Denn sie wusste jetzt, wie Liebe auch sein konnte: überwältigend, umwerfend, wahnsinnig.
Ihr Körper wurde von Hormonen beherrscht, und sie hätte am liebsten geweint. Ihrem Bauch war noch immer nichts anzusehen, aber das würde sich schon bald ändern. In einem Monat würde sie sichtbar schwanger sein. Bernard würde sie vielleicht noch eine Weile vorspiegeln können, sie habe zugenommen, aber ihre Freundinnen würden sich nicht für dumm verkaufen lassen. Eine Schwangerschaft zeichnet sich nun einmal schneller ab, wenn man schon Kinder ausgetragen hat.
Christian und Noélie waren in der Schule. Der Schulbus würde sie gegen halb sechs zurückbringen. Die Angestellten und Tagelöhner arbeiteten auf dem Feld. Eine weiter entfernt gelegene Parzelle musste abgeerntet werden – die letzte Ernte dieser Saison.
Im Nachhinein betrachtet mussten die Eindringlinge alles sorgfältig geplant haben. Sie mussten gewusst haben, dass Bernard heute allein zu Hause sein und in dem kleinen, an das Wohnhaus angebauten Büro seine Buchhaltung erledigen würde. Die Tür zu diesem Büro war niemals verschlossen, weil sie sie als Hintereingang benutzten.
Die Eindringlinge waren haarklein über alle ihre Gewohnheiten informiert.
Jetzt wurde ihr klar, warum.
Sie hatten die beste Informantin gehabt, die man sich denken konnte, jemanden aus dem innersten Kreis.
Sie.
Sie hatte ihnen alle Informationen verschafft, die sie brauchten.
Ohne es zu ahnen.
29
Wir essen in einem auf amerikanisch getrimmten Restaurant in einem Industriegebiet. Die gemütliche Atmosphäre im Inneren macht die unpersönliche Umgebung wieder wett. Durch die Aufteilung in mehrere kleine Räume sowie die warmen Farben des Bodenbelags, der Tapete und der Holzelemente strahlt das Lokal Gemütlichkeit aus. Von den zahlreichen Lampen hängen goldfarbene Fransen, und die Bänke sind mit rotem Stoff bezogen. Die Rückenlehnen sind so hoch, dass die Sitzgruppen Nischen bilden wie in altmodischen luxuriösen Eisenbahnwaggons.
»So einen Laden müssten wir zu Hause auch haben«, bemerkt Erwin und tippt spielerisch gegen die Lampenfransen. »Lustig!«
Hinter uns sitzt eine Familie mit kleinen Kindern. Ich kann sie nicht sehen, nur hören. Bei den Flüchen, die die Eltern ausstoßen, um ihren Nachwuchs zur Räson zu bringen, zucke ich jedes Mal zusammen, doch Erwin reagiert nicht. Da er kein Französisch spricht, ist es für ihn nur unverständliches Kauderwelsch.
Wir haben beide einen Hamburger mit Pommes frites bestellt und trinken ein Bier dazu.
»Was will Dianne hier eigentlich?«, fragt Erwin.
Ich tunke mehrere Pommes mit den Enden in ein Schälchen Ketchup. »Eine bessere Art zu leben. Bewusster. Mehr im Einklang mit der Natur.«
»Hatte sie denn Erfahrung mit einer solchen Lebensweise? Wusste sie, worauf sie sich einließ?«
»Das nicht, aber sie lernt sehr schnell und hatte sich meiner Meinung nach ein solides Wissen angelesen.«
Er verzieht das Gesicht. »Das klingt nach einer Folge von Mein neues Leben XXL . Diese Leute glauben auch alle, dass sie es irgendwie schaffen.«
»Nein, so war es nicht.«
»Wie denn dann?« Er trinkt einen Schluck von seinem Bier.
»Das ist schwer zu erklären. Du kennst Dianne ja nur von Fotos und von dem, was ich dir von ihr erzählt habe. Wenn du sie kennenlernst, wirst du verstehen, dass sie keine Frau ist, die unnötige Risiken eingeht.« Unbewusst wiederhole ich, was Diannes Mutter gesagt hat. »Sie ist nicht naiv. Im Gegenteil, sie ist ziemlich intelligent.«
Eines Abends kamen Dianne und ich vom Ausgehen nach Hause und tranken noch eine Bacardi-Cola auf meinem Bett. Sie hatte schon zu viel getrunken, um noch nach Hause fahren zu können. Weil wir noch nicht schlafen konnten, hatten wir MTV eingeschaltet.
Drei Wochen vorher hatte sie mit dem Orakel Schluss gemacht, was ihr sehr gutgetan hatte. Wir machten es uns gemütlich, fast wie früher, als wir andauernd
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