Verfallen
bis Samstag immer noch nicht zu Hause ist, werde ich sie als vermisst melden. Und wenn es so weit kommt, würde ich Sie bitten, die Anzeige ernst zu nehmen.«
»Warum sollte ich das nicht tun?«, fragt er pikiert, dreht sich um und geht. »Na dann, bis bald. Und alles Gute.«
Pascal Blondy findet selbst hinaus.
Mit verschränkten Armen beobachte ich, wie er in seinen Polizei-Peugeot steigt und davonfährt.
Erst als er außer Sicht ist, räume ich die Becher weg. Seiner ist noch voll – er hat seinen Kaffee nicht angerührt.
Nach seiner Abfahrt wandere ich unaufhörlich durch das Haus. Ich kann einfach nicht still sitzen. Ich bin von einer nervösen Energie erfüllt, die mich ständig in Bewegung hält. Ich räume meine Kleider auf und stapele sie in meinem aufgeklappten Koffer im Gästezimmer. Fege die Asche und die Holzsplitter vor dem Ofen auf ein Häufchen, spüle die Kaffeetassen und trockne sie ab.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Soll ich bleiben oder fahren? Jemanden anrufen?
Ich gehe ins Wohnzimmer und starre aus dem Fenster, das Geschirrtuch in der Hand. Auf dem Hof haben sich Pfützen gebildet, in denen zusammengerollte Blätter treiben wie hauchdünne, steuerlose Miniaturschiffchen. Auch über die Felder weht Herbstlaub, das sich braun und gelb vor dem dunklen Waldrand und dem Himmel abhebt, der diesen desolaten Ort wie eine stahlgraue Kuppel überspannt.
Unwillkürlich habe ich angefangen zu weinen. Tränen laufen mir über das Gesicht und fallen auf den Fliesenboden. Die Felder werden unscharf.
Erwin hatte recht. Es nützt nichts, noch länger hierzubleiben. Am Samstag werde ich noch einmal versuchen, Dianne anzurufen, und wenn sie sich dann immer noch nicht meldet, kann ich mit dem Flugzeug zurückkehren – begleitet von Erwin. In diesem Moment bin ich mir jedoch gewiss, dass ich unmöglich noch bis Samstag warten kann. Die Aussicht, drei weitere Nächte hierzubleiben, empfinde ich als unerträglich.
Wer immer mich von hier vertreiben will, hat gewonnen.
Ich bleibe keinen Tag länger.
28
Ich will gerade die Treppe hinaufgehen und meinen Koffer packen, als draußen ein Motorgeräusch lauter wird. Wieder ein Besucher? Instinktiv greife ich nach dem Pfefferspray auf der Anrichte und stecke es in meine Gesäßtasche. Über den Teil der Sprühdose, der hinausragt, ziehe ich meine Strickjacke.
Ein Motorradfahrer biegt im Schritttempo auf den Hof ein. Er fährt eine schwere, leuchtend rote Maschine. In der Mitte des Hofs hält er an.
Der Motorradfahrer hat einen Rucksack um seine abgewetzte Lederkombi gegürtet. Er zieht den Helm ab und fährt sich mit den Händen durch seine dichten, dunklen lockigen Haare. Dann steigt er ab, zupft sich die Handschuhe von den Fingern und legt sie auf den Tank. Forschend blickt er sich um, betrachtet eingehend das Haus. Sein Atem kondensiert zu kleinen Wölkchen.
Ich reiße die Haustür auf und renne auf ihn zu. »Na, so was! Ich glaub’s ja nicht!«
Sein Gesicht hellt sich auf. »Da bist du ja! Ich hatte schon Angst, ich hätte mich verfahren, weil ich dein Auto nirgendwo gesehen habe.«
»Es steht da hinten.« Ich zeige zum Hangar.
Erwin breitet grinsend die Arme aus, und ich stürze mich fast hinein.
Er küsst mich auf die Stirn und den Mund. »Was für eine Begrüßung!«
»Ich dachte, du müsstest arbeiten?«
»Ein Kollege hat mit mir getauscht.«
Erwin riecht nach einer Mischung aus Öl, Leder und frischer Luft. Gerüche, die ich nie zuvor an ihm gerochen oder auch nur mit ihm assoziiert habe.
»Ich wusste gar nicht, dass du ein Motorrad hast.«
»Habe ich auch nicht. Ich habe es mir von Remco geliehen, die Kombi übrigens auch.« Demonstrativ streckt er die Arme aus. »Sie stinkt und ist zwei Nummern zu groß. Aber wie auch immer, jetzt bin ich ja da.«
»Wie wahnsinnig lieb von dir, dass du den ganzen weiten Weg in Kauf genommen hast, um zu mir zu kommen.«
»Du hast dich angehört, als könntest du ein bisschen Gesellschaft gebrauchen.« Er lächelt und küsst mich noch einmal auf den Mund. »Mit dem Motorrad nach Südfrankreich zu fahren, ist auch keine echte Strafe. Obwohl …« Er legt den Kopf in den Nacken. »Ist schon die ganze Zeit so schlechtes Wetter?«
»Gestern ist mal kurz die Sonne rausgekommen.«
»Und Dianne?«
»Hat sich noch nicht gemeldet.«
Es fängt wieder an zu regnen. »Komm«, sage ich, »stell das Motorrad in den Hangar, da steht es im Trockenen.« Ich gehe ihm voraus
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