Verfallen
Blick auf ihr bleiches Gesicht. Sie hat über wesentliche Dinge in ihrem Leben gelogen, Gefühle, Entscheidungen und Geschehnisse, von denen sie ganz erfüllt gewesen sein muss: ihre Beziehung zu Hugo, die Emigration, die sie angeblich ganz allein in Angriff genommen hat … Selbst jetzt weiß ich nicht, was ich von all den Dingen glauben soll, die sie mir erzählt hat. Ich habe das deutliche Gefühl, dass ich noch nicht die ganze Geschichte erfahren habe.
Sie liegt blutend auf dem Rücksitz, wird vielleicht nicht überleben, und dennoch hält sie manches vor mir verborgen. Sie schließt mich aus.
Vous êtes arrivé.
Wütend wische ich mir die Tränen aus den Augen.
Vermutlich haben sich unsere Wege schon letztes Jahr im Sommer getrennt, auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus.
Und jetzt biegen wir wieder auf den Parkplatz eines Krankenhauses ein und sind weiter voneinander entfernt denn je.
Sie hatten nicht mit ihr gerechnet. Sie waren davon ausgegangen, dass Bernard allein zu Hause sein würde, wie immer donnerstags, wenn er in seinem Büro die Buchhaltung erledigte. Die Kinder waren in der Schule und würden erst um halb sechs zurückkommen. Die Angestellten waren bei der Arbeit auf dem Feld, fünf Kilometer vom Haus entfernt.
Normalerweise wäre sie in der Stadt gewesen. Wie jeden letzten Donnerstag im Monat wäre sie über den überdachten Markt geschlendert, hätte in der Pataterie zu Mittag gegessen und sich in den Regalen des Monoprix umgesehen. An solchen Tagen kochte sie nicht, sondern brachte nems und nougat Chinois vom Vietnamesen mit. Vor allem Christian war ganz verrückt danach.
An ihrer Planung hatte es nicht gelegen. Die war perfekt. Sie hätten Bernard tatsächlich allein zu Hause angetroffen, wenn sie sich am Morgen nicht so krank gefühlt hätte.
Sie war in der Scheune beschäftigt, als sie sie auf den Hof kommen sah. Einen Mann und eine Frau in Jeans und Armeejacke. Sie sahen aus wie Aktivisten, diesen Eindruck machten sie: alternative Typen, von denen Bernard und sie schon mehrfach wegen Bernards moderner Anbaumethoden belästigt worden waren.
Der Mann war groß und fast kahl geschoren – sie trugen ihre Haare oft entweder so oder in Dreadlocks. Das wirre, an den Spitzen hellblond gefärbte Haar der Frau war unordentlich im Nacken zusammengebunden.
Sie wollte gerade hinausgehen und die beiden fragen, was sie auf ihrem Hof zu suchen hatten, als sie sah, wie sie Schweinemasken aus einem Rucksack holten und sie vor ihre Gesichter banden. Der Mann hielt eine Pistole in der Hand.
Sie sah, wie er sie durchlud, und wurde kreideweiß.
Ein Überfall.
Auf dem Büfett in Bernards Büro stand ein kleiner Tresor mit etwa sechstausend Euro in bar. Einige Hilfsarbeiter wurden gelegentlich schwarz bezahlt. War Bernard so unvorsichtig gewesen, das Geld in Anwesenheit der Arbeiter herauszuholen? In der Kneipe wurde so viel geredet.
Sie musste etwas unternehmen. Die Polizei anrufen, sofort. Doch sie wühlte vergeblich in der Tasche ihrer Strickjacke. Das Handy lag noch zum Aufladen in der Küche.
Das Festnetztelefon stand im Wohnzimmer. Keines der Telefone konnte sie ungesehen erreichen. Auch durch ein Fenster konnte sie nicht klettern: Wegen der zunehmenden Belästigungen durch die Aktivisten hatten sie an allen Fenstern und Türen zusätzliche Schlösser angebracht, weil Bernard und sie Angst vor einem nächtlichen Überfall gehabt hatten. Die einzige Möglichkeit, ins Haus zu gelangen, war über die Veranda – also durch Bernards Büro.
Sie beobachtete, wie die beiden zur Veranda hinaufstiegen, und erkannte, dass sie nichts mehr tun konnte.
Der Boden unter ihr schlug Wellen. Ihre Ohren sausten.
Sie sah, wie der Eindringling mit der Pistole Bernard dazu zwang, sich hinzuknien. Wie ihr Mann die Hände hob und den Kopf senkte, während auf ihn gezielt wurde.
Sie erwartete, dass die Frau zum Büfett eilen würde, um den Tresor auszuräumen – aber das tat sie nicht.
Sie blieb stehen.
Der Mann stellte sich hinter seine Freundin in Position, legte die Pistole in ihre Hand und schloss eine Hand um ihre.
Die Frau blickte zu ihm auf, zog eine Schulter hoch und schmiegte sich an ihn. Sie verhielt sich, als stünden sie zusammen auf einem Sportplatz, wo sie Unterricht von einem attraktiven Tennis- oder Golflehrer erhielt.
Doch der Lauf der Pistole war noch immer auf Bernard gerichtet, der vor ihnen auf dem Boden kniete. Bernard, der die Hände hinter dem Kopf gefaltet hatte und nicht weglaufen
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