Verfallen
euch hierhergeholt?«
»Eine Gruppe französischer Aktivisten. Laurent ist ihr Anführer.«
»Laurent, und wie weiter?«
»Weiß ich nicht.« Sie schüttelt den Kopf, die Augen halb geschlossen. Ich sehe sie ein- und ausatmen, jeder Atemzug ein Kampf. »Sie sitzen überall, sogar in Spanien und England.«
»Wer?«
»Diese Gruppen. Zellen, die Kurts und Hugos Hilfe anfordern.«
Au rond-point, tournez à droite, première sortie.
Ich blicke auf. Wir sind nicht mehr allein auf der Straße. Sie hat sich verbreitert, wird hell erleuchtet und führt nicht mehr an Felsen und Bäumen entlang und durch verschlafene Dörfer, sondern an Bürogebäuden und Lagerhäusern vorbei. Wir nähern uns der Stadt.
»Habt ihr zusammen in Le Paradis gewohnt? Du und Hugo?«
»Nein. Es war besser, dass wir nicht miteinander gesehen wurden.«
Ich setze mich anders hin und stoße versehentlich mit dem Fuß gegen den kleinen Rucksack. Vorsichtig schiebe ich ihn weiter unter den Beifahrersitz. »Was hast du in dem großen Haus gemacht, Dianne? Was hattest du dort zu erledigen?«
»Hugo hatte die Pistole behalten. Mit meinen Fingerabdrücken darauf. Solange er sie hatte, hatte er mich in der Hand.« Dianne sucht meinen Blick. Sekundenlang schweigt sie, ihre Brust hebt und senkt sich. »Sie werden nicht aufhören. Sie werden weitermachen. Ich habe die Listen.«
»Listen?«
»Ja, mit ihren Plänen. Namen und Adressen von Zielpersonen. Und Namen der französischen Gruppe. Auch von Kontaktpersonen in Deutschland und Spanien. Ich habe fast alles, um ihnen das Handwerk zu legen.« Zitternd atmet sie ein und dann durch die Nase wieder aus. Erneut schließt sie die Augen, als sei das Reden so weniger anstrengend. »Mir fehlt nur ein Name. Ich komme einfach nicht dahinter, wer er ist.«
»Einer der Aktivisten?«
Sie schüttelt den Kopf. »Er ist sehr vorsichtig, trägt immer eine Maske. Bernard Bonnet war meine Feuertaufe. Danach sollte ich dazugehören.«
»Meinst du zur französischen Gruppe?«
»Nein. Zu Hugo und Kurt.«
Wir nähern uns der Stadt. Erwin fährt langsamer, weil dichterer Verkehr herrscht.
»Warum hat Hugo dich mit einbezogen?«
»Weil er geglaubt hat, ich wäre genau wie er oder könne so werden. Vielleicht hatte er sogar recht. Vielleicht wollte ich endlich einen Schritt weitergehen.« Sie atmet durch die Nase ein und als sie ausatmet, klingt es wie ein lang gezogenes Stöhnen. »Durch die Frau hat sich alles verändert. Sie hätte nicht sterben müssen.«
»Welche Frau?«
»Patricia. Sie hatte uns gesehen. Aber was machte das schon? Wir hätten flüchten können … Wir hätten …« Sie verzieht merkwürdig den Mund, mehrmals, krampfhaft. Es ist kein normaler Tick, sondern ein Zeichen dafür, dass ihr Zustand allmählich kritisch wird. »Diese arme Frau hatte nichts mit alldem zu tun. Das war Mord. Eine Exekution.« Sie hustet, fasst sich an den Bauch und verzieht das Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse. »Ich hasste sie. Ich hasste sie dafür. Ich musste … ich musste etwas unternehmen.«
»Jetzt sag lieber nichts mehr«, flüstere ich mit einem Blick auf das Navi-Display. »Wir sind fast da.«
Ringsum ragen hohe Sandsteingebäude auf. Beleuchtete Fassaden. Geschäfte und Zebrastreifen, Ampeln mit orangefarbenen Blinklichtern. Das Navigationssystem sagt, unser Ziel liege nur noch siebenhundert Meter entfernt.
»Wir sind fast da«, wiederhole ich. »Halte durch!«
Dianne gleitet weg in die Bewusstlosigkeit. Ihre Haut ist kühl und feucht, die Augen starren blicklos durch die Scheibe nach draußen. »Wenn ich sterbe, Eef …«
»Du stirbst nicht.«
»… geh in meine Hotmail: Dianne1977, Passwort Eva1980.«
»Halte durch!«, dränge ich. »Bitte halte durch. Wir sind fast da!«
»E und D in Großbuchstaben«, flüstert sie.
Unruhig reibe ich über die Narbe in meiner Handfläche. Ich weine lautlos. Tränen rinnen mir über das Gesicht.
Die wichtigste Frage habe ich noch nicht gestellt. Eine Frage, die zwischen uns steht, die unablässig an mir nagt: Wie konntest du mich anlügen? Trotz all der Schmerzen und der Anspannung tut mir das am meisten weh. Dass Dianne offenbar in der Lage war, mich knallhart, ja mühelos anzulügen. Und dass ich sie nicht durchschaut habe. Mit einem Schlag trifft mich die Erkenntnis, dass wir nicht die guten Freundinnen, die Seelenverwandten sind, für die ich uns immer gehalten habe.
Sie ist sie.
Ich bin ich.
Das ist mir nun schmerzlich bewusst geworden.
Ich werfe einen
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