Verfallen
unterscheiden kann. Ich hätte eher begreifen müssen, dass es mit Dianne bergab ging.
Habe ich zu lange vor ihren Fehlern die Augen verschlossen? Kann sein. Hätte ich ihr helfen können? Nein. Ich glaube nicht, dass sie sich von mir hätte helfen lassen. Das widersprach unserer Rollenaufteilung. Sie war mein Vorbild. Nicht umgekehrt. Sie hätte niemals auf mich gehört.
Ich fühle mich wie eine Versagerin, weil ich jetzt erst erkenne, dass Dianne – genau wie ich – das Bedürfnis hatte, sich weiterzuentwickeln, mit Hilfe eines anderen, der sie inspirierte und ihr als Vorbild dienen konnte. Und alles, was sie suchte, fand sie offenbar in Hugo Sanders.
Erwins Stimme reißt mich aus meiner Trance. »Sie war furchtbar besorgt wegen irgendeiner Pistole mit ihren Fingerabdrücken darauf. Und sie war auf der Suche nach einem Kerl, der eine Frau ermordet haben soll.«
»Einem Kerl? Meinst du Hugo?«
Er sieht mich nachdenklich an. »Nein … ich glaube, sie meinte einen anderen. Sie sagte: ›dieser Kerl‹. Sie sagte, sie müsse mit ihm abrechnen, wisse aber seinen Namen nicht.«
Ein Pfleger kommt auf uns zu. Schütteres Haar, randlose Brille. » Excusez? Hier soll jemand warten, der zu Madame Dianne van den Berg gehört.«
Ich springe so abrupt auf, dass ich mir beinahe den Knöchel verstauche. Alle Köpfe drehen sich in unsere Richtung.
Der Pfleger kommt näher und senkt die Stimme. »Sind Sie eine Verwandte von Madame van den Berg?«
»Ich bin ihre Schwester«, lüge ich, ohne zu zögern.
Er schüttelt mir die Hand und murmelt seinen Namen, den ich nicht verstehe. »Sie wird gerade operiert. Es ist eine komplizierte Verletzung, die Kugel hat ihre inneren Organe getroffen, Dünn- und Dickdarm durchschlagen und sehr wahrscheinlich auch die Leber verletzt. Das macht ihren Zustand noch Besorgnis erregender, als er ohnehin schon ist.«
»Schafft sie es?«
Er zögert. »Wir tun unser Bestes, mehr geht nicht. Aber es ist ein komplizierter Fall. Ich möchte keine falschen Hoffnungen wecken, Madame.« Forschend sieht er mich an. »War es ein Unfall?«
»Nein. Meine Schwester …« Krampfhaft suche ich nach Worten. Was soll ich sagen? Ich will Dianne nicht in noch größere Schwierigkeiten bringen. »Äh …«
Er hebt die Hand. »Es geht mich nichts an. Das können Sie später der Polizei erzählen. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen, dass die Ärzte noch mindestens fünf Stunden brauchen werden.«
»Fünf Stunden?« Meine Augen wandern von dem Pfleger zu Erwin und wieder zurück.
»Die Därme sind an mehreren Stellen perforiert. Wir müssen sie Zentimeter für Zentimeter untersuchen, alles vernähen, die Bauchhöhle ausspülen … Aber wenn wirklich die Leber verletzt ist, können wir nur die Symptome bekämpfen, nicht die wirkliche Ursache.« Plötzlich sieht er mich erschrocken an, als hätte er geglaubt, mit einem Kollegen zu reden, und würde sich jetzt erst bewusst, dass eine Außenstehende ihm zuhört. Offenbar war es auch in diesem Krankenhaus für einige ein langer Tag gewesen.
Der Mann strafft die Schultern. »Wenn Sie möchten, können Sie mich auf die Station begleiten. Wir haben ein Familienzimmer mit einem Bett, das gerade frei ist. Möchten Sie sich vielleicht ein wenig frisch machen oder schlafen?«
»Ja, gern«, antworte ich.
42
Das Zimmer riecht nach Desinfektionsmittel und ist nicht gerade gemütlich. Ein Bett und vier Stühle mit Skai-Bezug, Linoleumboden. Das Fenster zeichnet sich als schwarzes Viereck ab, in dem sich die Neonleuchten in der abgehängten Decke widerspiegeln.
Ich bin zu Tode erschöpft, mir brummt der Schädel, aber ich gebe mich meiner Müdigkeit nicht hin. Ich kann nicht schlafen, während Dianne um ihr Leben ringt. Ich weiß, dass das nur ein Gefühl ist, ein irrationales Gefühl, denn die Operation wird nicht besser verlaufen, wenn ich die ganze Nacht stocksteif auf diesem Stuhl sitzen bleibe. Trotzdem will ich mich wach halten.
Erwin hat schon seit einer ganzen Weile nichts mehr gesagt. Er ist offensichtlich nicht einverstanden mit meiner sturen Haltung, lehnt die ganze Zeit mit verschränkten Armen an der Wand und starrt das leere Bett an. Schon mindestens sechsmal hat er mir geraten, mich hinzulegen und ein wenig zu schlafen. Schließlich ist er selbst unter die hellgelbe Decke geschlüpft, hat sich auf die Seite gedreht und ist ganz an den Rand gerückt, um mir demonstrativ Platz zu lassen für den Fall, dass mein Verstand über mein naives
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