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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Wir bringen dich ins Krankenhaus.«
    Diannes Haare, die sie in einem lockeren Pferdeschwanz im Nacken trägt, sind gewachsen, seitdem wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Sogar im weichen Licht der Straßenlaternen erkennt man den starken Kontrast zwischen den herausgewachsenen, weiß blondierten Locken und ihrem dunkelblonden Naturton.
    Das Navigationsgerät schweigt. Mit einem raschen Blick auf das Display stelle ich fest, dass es noch kein GPS-Signal empfangen hat.
    Die gewundene Straße schlängelt sich durch eine gottverlassene Gegend. Ich sehe nirgendwo Häuser und keinerlei Hinweisschilder, die uns anzeigen, ob wir auf dem richtigen Weg sind.
    Vielleicht fahren wir in die Irre und verlieren wertvolle Minuten.
    Im schwachen Licht des Fonds kann ich nicht erkennen, wie schwer Dianne verletzt ist. Ich sehe nur ihre Umrisse und rieche den süßlich-metallischen Gestank, der den ganzen Innenraum erfüllt.
    »Halte durch!«, flehe ich noch einmal, mehr, um mir selbst Mut zuzusprechen.
    »Danke, dass du auf mich gewartet hast«, flüstert sie leise.
    Als der Mondschein ins Auto fällt, sehe ich, dass sie mich anschaut.
    »Mein Gott, Dianne.« Ich reibe über ihre Hand. Sie fühlt sich kalt und feucht an. »Was ist passiert? Wer sind diese Männer?«
    Sie verzieht vor Schmerzen das Gesicht und atmet zischend zwischen den Zähnen hindurch aus.
    »Tut mir leid«, sage ich rasch, als ich erkenne, wie sehr sie leidet. »Das hat Zeit.«
    Après trois cents mètres, tournez à droite.
    Das Navi ist erwacht. Es ist noch immer auf Französisch eingestellt.
    Ich rutsche nach vorn, zwänge mich zwischen den Vordersitzen hindurch und strecke den Arm aus, um auf Niederländisch umzuschalten.
    »Lass nur«, brummt Erwin. »Es geht auch so.«
    Beide schauen wir auf das Display. Wir haben vier Minuten nach eins. Das Krankenhaus liegt fünfunddreißig Kilometer entfernt. Planmäßige Ankunftszeit: achtzehn Minuten vor zwei. Falls wir uns nicht vorher totfahren. Erwin rast mit hoher Geschwindigkeit dahin. Der ganze Wagen bebt, und die Räder rattern über die unebene Straßendecke. Wir sausen dicht an einer Felswand vorbei.
    Ich lasse mich wieder auf die Rückbank sinken und konzentriere mich auf Dianne. Sie ist seitlich gegen die Tür gerutscht. Ihr Kopf liegt zwischen Kopfstütze und Türrahmen.
    Ich hebe ihren Rucksack vom Boden auf, lege ihn auf den Schoß und öffne den Reißverschluss. Der schwere Gegenstand, den ich eben gefühlt habe, erweist sich als Pistole. Erschrocken ziehe ich den Reißverschluss wieder zu und verstaue den Rucksack äußerst vorsichtig unter dem Vordersitz, sodass er nicht verrutschen kann.
    Dianne hat mich beobachtet. Sie schluckt mühsam und sagt dann: »Hast du von dem Ehepaar Bonnet gehört?«
    Alarmiert blicke ich sie an. »Bonnet? Die Leute, die ermordet wurden?«
    »Ja. Er hat mit Genmais herumgepfuscht. Deswegen sind wir zu ihm hin.«
    » Wir? «
    Sie spricht so leise, dass ich mich anstrengen muss, um sie zu verstehen. »Ich war schrecklich nervös. Hugo nicht, dem war alles egal. Wir trugen beide Masken. Der Bauer war starr vor Schreck, als er uns entdeckt hat.« Ein bedauerndes Grinsen huscht über ihr Gesicht, und sie schweigt für einen Moment. Sie scheint zu überlegen, aber vielleicht sammelt sie auch nur Kraft zum Weiterreden. »Ich dachte, wir wollten ihm nur Angst einjagen …« Als unsere Augen sich treffen, gerät sie erneut ins Stocken. Dann huscht ihr Blick nach unten, an mir vorbei zu dem Rucksack.
    Ich habe genug gehört. Mein Herz klopft wieder genauso schnell wie auf dem Weg den Abhang hinunter. »Hast du … Habt ihr …?«
    Er wurde in seinem eigenen Haus abgeschlachtet.
    Sie wurde zwei Tage später gefunden.
    Abgeknallt wie ein wildes Tier.
    Im vierten Monat schwanger.
    Sie muss das Entsetzen in meinem Gesicht wahrgenommen haben. Beschämt wendet sie den Blick ab und gibt vor hinauszuschauen.
    Nach langem, bedrücktem Schweigen flüstert sie: »Hugo hat mir die Pistole in die Hand gelegt und abgedrückt. Er hat den Mann mit meiner Hand erschossen. Ich konnte nichts dagegen tun. Nichts.« Wieder hält sie inne. »Glaubst du mir? Ich möchte, dass du mir glaubst.«
    Nervös fasse ich mir in die Haare. Ich fühle eine Beule, getrocknetes Blut und etwas Klebriges. Noch nicht ganz eingetrocknetes Blut aus meiner Kopfwunde.
    Dianne schließt die Augen und schluckt ein paar Mal. »Später hat er mir erzählt, dass es für ihn nicht das erste Mal war.«
    Bestürzt sehe ich sie an.

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