Verfallen
Verantwortungsgefühl siegt.
Ich setze mich im Schneidersitz auf einen Stuhl und fahre mir mit den Fingern durch die Haare. Sie sind immer noch nicht trocken, riechen aber wenigstens wieder angenehm. Meine Jeans dagegen stinkt immer noch, und mein T-Shirt riecht nicht viel besser. Wie schlimm es war, habe ich erst bemerkt, als ich sauber geschrubbt und nach »Wilde Orchidee« duftend aus der Dusche auf dem Flur kam.
Den Geruch, der aus dem Kleiderhaufen aufstieg, werde ich für immer mit Todesangst assoziieren. Ich glaube nicht, dass ich je wieder auf die Toilette gehen kann, ohne an diese Nacht zurückzudenken. Aber darüber mache ich mir jetzt noch keine Gedanken.
Ich starre die Wand an. Hellgelbe Fischgrättapete. Über der Tür hängt eine Uhr, die jedes Mal leise summt, wenn der Minutenzeiger weiter vorrückt. Ansonsten ist es still im Zimmer. Auf dem Flur höre ich weder Schritte noch Stimmen. Erwin atmet geräuschlos.
Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüstert mir zu, dass ich etwas unternehmen müsste. Ich könnte zum Beispiel Diannes Mutter anrufen, ja, das wäre sogar meine Pflicht. Aber was soll ich ihr erzählen? Ich habe nur schlechte Nachrichten für sie, und sie kann mitten in der Nacht von den Niederlanden aus doch nichts an der Situation ändern. Ich halte es für sinnvoller abzuwarten, bis wir mehr über Diannes Zustand erfahren haben. Deshalb rufe ich sie erst an, wenn die Operation überstanden ist – frühestens in vier, fünf Stunden.
Doch auch danach heißt es erst einmal: abwarten. Eine gelungene Operation heißt noch nichts. Ich habe mir oft genug Krankenhausserien im Fernsehen angesehen, um zu wissen, dass eine Schusswunde in den Unterleib zu den gefährlichsten Verletzungen überhaupt gehört, weil sich der Inhalt der Därme in der ganzen Bauchhöhle verteilt. Alle möglichen Bereiche werden mit Kolibakterien infiziert, was fast immer zu schweren Infektionen wie zum Beispiel Bauchfellentzündung führt – oft mit tödlichem Ausgang.
Nein. Noch will ich ihre Mutter nicht anrufen. Das bringe ich nicht übers Herz. Außerdem weiß ich Gerdas Telefonnummer nicht auswendig, und mein Handy bin ich los.
Ich stehe von dem Stuhl auf und beuge mich über Erwin.
Sein Mund ist leicht geöffnet, er atmet gleichmäßig ein und aus. Als ich die Decke über ihn ziehe, zucken seine Augenlider, und ich befürchte einen Moment lang, ich hätte ihn geweckt. Reglos bleibe ich neben dem Bett stehen und beobachte, wie sich sein rechter Mundwinkel zu einem schlaftrunkenen Lächeln verzieht, bis die Muskelspannung wieder nachlässt und sein Atem erneut regelmäßig geht.
Ich wünschte, ich könnte schlafen, aber mir spukt zu viel im Kopf herum. Bilder, Geräusche. Und Fragen. Sehr, sehr viele Fragen.
In einem Impuls gehe ich zur Tür, öffne sie so leise wie möglich und schleiche hinaus auf den Flur.
Niemand zu sehen. Das Licht ist gedimmt, die Türen einiger Krankenzimmer stehen einen Spalt offen. Dahinter ist es dunkel. Hier und da höre ich jemanden husten, und aus einigen Räumen ertönen elektronische Pieptöne.
Auf halbem Wege den Flur hinunter befindet sich ein größtenteils verglaster, quadratischer Raum, in dem bei einer Tasse Tee eine Krankenschwester sitzt. Mit leerem Blick starrt sie mehrere Computerbildschirme an, die einen bläulichen Schein auf ihr Gesicht werfen.
Sobald sie mich entdeckt, hebt sie den Kopf und sieht mich abwartend an.
» Bonsoir Madame, excusez-moi de vous déranger – tut mir leid, wenn ich Sie störe«, beginne ich. »Meine Schwester, Dianne van den Berg, wird gerade operiert. Ich würde gerne unserer Mutter in den Niederlanden Bescheid sagen, aber …«
Die Nachtschwester deutet auf ein Telefon, das auf einem kleinen Schreibtisch in der Ecke steht. »Wenn Sie möchten, können Sie dieses Telefon benutzen.«
»Danke, sehr freundlich. Aber ich weiß die Telefonnummer nicht auswendig. Gibt es im Krankenhaus vielleicht einen Computer mit Internetanschluss?«
Darauf reagiert sie weniger entgegenkommend. Stirnrunzelnd erwidert sie: »Schon, aber der Anschluss ist normalerweise nur für Mitarbeiter zugänglich.« Etwas freundlicher fährt sie fort: »Wissen Sie was? Sie geben mir den Namen, und ich suche die Telefonnummer für Sie heraus.«
Mein Lächeln gefriert. Das Gespräch verläuft ganz und gar nicht nach Wunsch. Die Schwester steht auf, nimmt einen Schlüsselbund von einem Haken und bedeutet mir, ihr zu folgen.
Wir eilen durch mehrere Flure und
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