Verfallen
erreiche einigermaßen ebenes, offenes Gelände. Zu meiner Rechten beschreibt der Waldrand eine sanfte Abwärtskurve, links von mir und vor mir erstreckt sich ein welliges Stoppelfeld. Der Feldweg führt rechts ab zu einem etwas niedriger gelegenen, mit Split befestigten Grundstück, auf dem zwei mörtelverputzte Gebäude längs hintereinander aufragen. Auf der anderen Seite des Grundstücks steht zum Feld hin ein Wellblechhangar. Ich stelle mein Auto mitten auf dem Hof ab und starre die dunklen Gebäude an. Das größere muss eine Scheune sein, das kleinere erkenne ich anhand der gemailten Fotos als Diannes Haus.
Ich steige aus. Als Erstes fällt mir die Stille auf. Kein Verkehrsrauschen, kein Flugzeuglärm, weder Stimmen noch Musik noch bellende Hunde, keine knatternden Mopeds, ja nicht einmal Vogelzwitschern. Nichts. Hier, im bläulichen Mondlicht, herrscht vollkommene Stille.
Ich bleibe stehen und betrachte das Haus. Es gleicht eher einem schlichten Herrenhaus als einem Bauernhof. Schnörkellos, fast spartanisch, rechteckig und schmal. Bescheiden, mit weißen Ecksteinen und Fensterumrahmungen in demselben hellen Stein. Die Fensterläden sind geöffnet. Die Haustür liegt genau in der Mitte; einige Betonstufen führen hinauf, zwischen denen das Unkraut wuchert. Im Inneren des Hauses erkenne ich einen schwachen Lichtschein.
Ich gehe zur Tür, sehe keine Klingel und schlage zweimal mit der Faust auf das verwitterte Holz. Das Geräusch schallt weit über die nebligen Hügel. Irre ich mich, oder höre ich ein Echo meines eigenen Klopfens? Ich drehe mich um. Hinter meinem Auto ragt der Hangar als düsterer Schatten vor der mondbeschienenen Landschaft auf. Ich hämmere noch einmal an die Tür, diesmal lauter.
»Dianne! Hallo? Ich bin’s, Eva!« Jetzt wirft der Wald ein leises Echo meiner Stimme zurück.
Ich wische den Schmutz von einer der Fensterscheiben und schaue hindurch. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann sehe ich einen Fliesenboden, hell tapezierte Wände und eine niedrige Balkendecke.
Aber nichts rührt sich.
Das Haus ist von einem breiten Betonstreifen umgeben, auf dem ich das Gebäude umrunde.
Auf der Rückseite ragt der Wald noch dichter und scheinbar finsterer auf. Unwillkürlich werfe ich einen Blick über die Schulter, bevor ich die Klinke der Hintertür ausprobiere. Abgeschlossen. Allerdings brennt Licht in der Küche; eine Wandleuchte mit schwacher Birne taucht den Raum in schummriges Halbdunkel. Ich ticke mit den Fingernägeln gegen die dünne Glasscheibe der Hintertür. Zweimal, dreimal. Keine Reaktion.
Es scheint, als sei Dianne tatsächlich nicht zu Hause. Ich hole das Handy aus der Jackentasche. Halb neun. Ob sie essen gegangen ist? Oder zu Besuch bei Freunden?
Ich verbiete mir, gleich an das Schlimmste zu denken. Es sind so viele plausible Gründe dafür denkbar, dass ihr Handy nicht eingeschaltet ist und sie ihre Mails nicht beantwortet. Das muss gar nichts zu bedeuten haben. Vielleicht gibt es Ärger mit dem Telefonanschluss, oder sie hat ein Virus auf dem Computer. In dieser Gegend findet man bestimmt nicht so leicht jemanden, der da Abhilfe schaffen kann.
Zum fünfzehnten Mal an diesem Tag versuche ich, sie anzurufen. Nicht erreichbar, das Handy ist ausgeschaltet. Ich überlege, dass schließlich auch Diannes Telefon kaputt sein kann und sie vielleicht einfach noch keine Zeit hatte, sich ein neues zu kaufen. Oder sie möchte gar keines mehr, denn in letzter Zeit hatte sie Einwände gegen alles, was mit Technik und Kommerz zu tun hat. Oder sie kann es sich ganz einfach nicht leisten. Das würde mich auch nicht wundern.
Durch das schmutzige Fenster sehe ich einen Küchenblock mit einem niedrigen Spülbecken, Unterschränken und Regalen mit Gardinen unter der Anrichte, einen vierflammigen Gasofen mit Klappe und einen fleckigen Küchentisch, der aussieht, als stamme er aus einer Werkstatt. Ringsherum stehen Stühle, von denen nicht zwei zusammenpassen. Dieses Haus bietet keinerlei Luxus.
Nicht, dass Dianne je großen Wert auf Komfort gelegt hätte, aber diese Bleibe erscheint mir dennoch sehr armselig.
Unruhig blicke ich mich um. Was nun? Soll ich warten? Aber vielleicht kommt sie heute Abend nicht mehr nach Hause.
Da fällt mir ein, wo meine Mutter früher den Schlüssel der Hintertür zu verstecken pflegte. Ich sehe mich um, entdecke aber nirgendwo einen Blumentopf. Neben der Tür steht ein Kasten mit leeren Flaschen. Als ich ihn
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