Verfallen
bleiben vor einer breiten Tür stehen. Sie schließt auf, öffnet und schaltet das Licht ein.
Der kleine Raum wird offenbar nur selten benutzt. Hier ist es mindestens fünf Grad kälter als auf der übrigen Station. Auf einem Tischchen steht ein uralter beigegrauer Computer.
Die Schwester schaltet den Rechner ein, und als er summend zum Leben erwacht, sagt sie lächelnd: »Es dauert einen Moment.«
Nervös verschränke ich die Arme und wandere ziellos hin und her, während die Schwester auf dem einzigen Stuhl im Raum Platz nimmt und nach mehreren quälend langen Minuten zweimal hintereinander ein Passwort eingibt. Auf dem gewölbtem Bildschirm erscheint eine Startseite.
Zugleich ertönt ein Alarmsignal auf dem Flur.
Sofort springt die Schwester auf. »Entschuldigung. Ich bin gleich wieder zurück. Würden Sie bitte hier warten?«
Kaum hat sie den Raum verlassen, setze ich mich an den PC .
Die Telefonnummer von Diannes Mutter kann ich sie gleich heraussuchen lassen. Aber nicht das, was ich brauche. Eine innere Stimme sagt mir, dass ich keine Zeit zu verlieren habe. Ich muss es wissen.
Schnell rufe ich die Hotmail-Seite auf und logge mich mit Diannes E-Mail-Adresse und dem Passwort ein, das sie mir im Auto gegeben hat.
Meine Augen huschen über den Bildschirm. Im Posteingang befinden sich ausschließlich Mails von ein und demselben Absender. Dianne hat diesen Account nur für ihre Aufzeichnungen benutzt. Ein digitales Tagebuch im Internet. Es sind nicht viele Mails, keine zwanzig.
Ich scrolle zur ältesten, die vor gut einem Monat eingegangen ist. Damals muss Dianne zum ersten Mal Verdacht geschöpft oder jedenfalls das Bedürfnis verspürt haben, ihre Erkenntnisse aufzuschreiben.
Hastig beginne ich, eine Mail mit dem Betreff »Informant« zu lesen.
LETZTEN MONAT HABEN WIR ZUCHTENTEN AUS IHREN KÄFIGEN BEFREIT UND DIE SCHEUNE IN BRAND GESTECKT, GESTERN EINEM GENBAUERN DIE SCHEIBEN EINGEWORFEN, UND LAURENT HAT LETZTE NACHT EIN FELD UMGEPFLÜGT. DREI AKTIONEN, UND JEDES MAL WAR KEINER ZU HAUSE. ICH GLAUBE, DASS HUGO UND KURT INFORMATIONEN VON JEMANDEM ERHALTEN, DER HIER WOHNT ODER ARBEITET (ODER BEIDES).
HABE HUGO DARAUF ANGESPROCHEN, ABER ER VERRÄT MIR NICHTS.
Ich gehe wieder auf »Posteingang« und sehe die Nachrichten durch, bis ich eine mit dem Betreff »Informant/2« finde.
HABE DEN INFORMANTEN GESEHEN – EIN MANN, DER HIER AUS DER GEGEND STAMMT. GENAU, WIE ICH VERMUTET HABE. WEISS ABER IMMER NOCH NICHT, WER ER IST. NICHT MAL, WIE ER AUSSIEHT. ER IGNORIERT MICH VOLLKOMMEN, REDET NUR MIT HUGO UND KURT UND TRÄGT EINE WILDSCHWEINMASKE.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich lese den Text noch einmal. Gehetzt blicke ich zur Tür und wieder auf den Bildschirm.
Ich glaube, ich weiß, wer dieser Mann ist, Dianne.
Ich glaube, ich weiß es.
Rasch überfliege ich die Mails, eine nach der anderen. Ankündigungen einer ganzen Reihe von Aktionen, sowohl in Frankreich als auch in anderen europäischen Ländern. Aktionen, die sich gegen rituelle Schlachthäuser, Schweinezuchten, Landwirte, Legebatterien richten – die Liste ist lang und abwechslungsreich.
Mir scheint, als stecke nicht etwa ein gut organisierter Aktivistenverband dahinter, sondern eine Ansammlung loser Gruppen oder Zellen, die zusammenarbeiten, sich gegenseitig Unterschlupf gewähren und Informationen austauschen. Hugo und Kurt scheinen mit allen in Kontakt zu stehen – etwas Ähnliches hat Dianne bereits im Auto angedeutet. Ich finde aber nicht heraus, ob die beiden von den Gruppen beauftragt werden oder selbst die Aktionen initiieren. Aber darum kann ich mich später kümmern. Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, sich längere Texte durchzulesen.
In der letzten Mail steht unter Betreff »Liste«, und tatsächlich enthält sie eine lose, nicht alphabetisch geordnete Reihe von Namen. Die Angaben hinter den einzelnen Namen – Beruf, Wohnort, Berufserfahrung oder Spezialgebiet – sind unvollständig. Soweit ich sehe, hat Dianne einfach alle Informationen, an die sie sich erinnern konnte, in dieser Liste gesammelt. Ab und zu stoße ich auf ein Fragezeichen, oder die Namen sind in verschiedenen Schreibweisen notiert, zwischen Schrägstrichen, was darauf hinweist, dass Dianne sie nur gehört und daher phonetisch aufgeschrieben hat.
Auf dem Flur nähern sich Schritte.
Fieberhaft lese ich weiter. Meine Augen huschen von einem Namen zum anderen. Hugo Sanders und Kurt Wesemann stehen auf der Liste. Laurent ist als
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