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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Leiter der hiesigen Gruppe aufgeführt – ich vermute, dass er derjenige war, der mich auf dem Landsitz verhört hat. Als Waffen- und Munitionslieferant wird ein gewisser Eric Millescamps genannt. Eric. Hat Hugo nicht den Waffenverkäufer in der Stadt mit Eric angesprochen? Es kann nicht schwer sein herauszufinden, ob er es wirklich ist.
    Die Schritte kommen näher.
    Schnell gehe ich die Liste weiter durch bis zum Ende. Und wieder zurück. Lese nochmals die Namen. Nein, ich irre mich nicht.
    Der Name des Mannes mit der Wildschweinmaske taucht nicht auf.

Sie stieß einen Schrei aus. Und noch einen. Sie schrie, bis ihr die Luft wegblieb.
    Sie standen noch immer in Bernards Büro. Sie bemerkten sie nicht einmal. Vielleicht hatte der Knall der Pistole in dem kleinen Raum sie vorübergehend taub gemacht, oder sie waren von ihrer Tat so berauscht, dass sie außerhalb ihrer mordlüsternen Blase nichts anderes mehr wahrnahmen.
    Sie war ratlos. Was sollte sie, was konnte sie tun? Bernard lag irgendwo da drinnen auf dem Boden, außerhalb ihres Blickwinkels. Aus nächster Nähe erschossen. Nein, er konnte nicht mehr am Leben sein.
    Dennoch starrte sie zum Fenster hinüber, der letzten Stelle, an der sie ihren Mann gesehen hatte, und hoffte von ganzem Herzen, dass er aufstehen würde – oder dass sie aus diesem äußerst realistischen Albtraum erwachte, dem grauenvollsten, den sie je gehabt hatte.
    Zitternd stand sie in der Scheune, hinter einem Traktor versteckt. Sie sah, dass die beiden herauskamen, ohne sich dem Tresor auch nur genähert zu haben. Kein Raubüberfall.
    Sie nahmen nichts mit.
    Sie zogen die Masken von den Gesichtern. Die Frau weinte und rieb sich nervös über die Arme. Er küsste sie, nahm sie in den Arm und zog sie freundschaftlich ein Stück hoch. Sie sprachen eine harte, unverständliche Sprache.
    Jetzt erst erkannte sie die Frau: Es war die Ausländerin, die vor Kurzem in das Haus von Babette gezogen war und mit allen Streit angefangen hatte.
    Von der anderen Seite des Hauses her gesellte sich eine dritte Person zu ihnen. Ein Mann. Groß, kräftig, muskulös. Selbstsicher stand er auf dem Kies, eine doppelläufige Jagdbüchse im Arm wie ein lebendiges Wesen. Genau wie die anderen trug er Militärkleidung und Jeans, dazu lederne Bergschuhe.
    Am auffälligsten war seine Maske: ein realistisch wirkender Wildschweinkopf aus Gummi.
    Was sie redeten konnte sie nicht verstehen, weil der Wind die Worte verwehte. Endlich bogen sie um die Ecke ihres Hauses.
    Als die drei außer Sichtweite waren, rannte sie über den Hof und eilte ins Büro.
    Bernard lag in einer seltsam verrenkten Haltung auf dem Fliesenboden. Vornübergebeugt, halb sitzend, halb liegend. Sein Oberkörper ruhte in einer Blutlache. Mitten im Rücken hatte die Kugel eine tiefe Wunde geschlagen.
    Sie ging in die Hocke. Die Haut an Bernards Händen und Unterarmen hatte eine abstoßende gräuliche Farbe – ebenso wie sein Gesicht. Die Augen waren nach oben hin verdreht, die Lider halb geschlossen. Sie blickten leer, sahen nichts mehr, würden nie wieder etwas sehen.
    Die Seele war aus ihnen entwichen.
    Sie sprang auf und lief panisch auf und ab, jammernd, vor sich hin murmelnd. Sie hätte Bernard gerne berührt, wagte es aber nicht. Alles war voller Blut, die Schreibtischfüße, die Wand – das Blut war bis hinauf auf Bernards eingerahmte Diplome gespritzt.
    Es troff von ihrem Hochzeitsfoto.
    Sie schüttelte den Kopf, immer wieder, schockiert und ungläubig. Sie sah Bernards Foto an, den Schreibtisch, blickte aus dem Fenster und flüsterte unablässig: »Was soll ich nur machen, was soll denn jetzt werden, was soll ich nur machen, was soll denn jetzt werden …«
    Anrufen.
    Sie musste jemanden anrufen.
    Den Notruf wählen.
    Ängstlich drängte sie sich an Bernard vorbei in den kleinen Zwischenflur und rannte ins Wohnzimmer. Beinahe wäre sie über Christians Sporttasche gefallen, hielt sich am Pfosten des Treppengeländers fest und rannte weiter.
    Das Telefon stand auf dem Büfett unter dem Fenster zum vorderen Hof. Sie riss den Hörer herunter, beugte sich nach vorn und blickte suchend hinaus. Niemand zu sehen. Sie waren weg.
    Sie wählte die Notrufnummer, hörte aber kein Rufzeichen. Stirnrunzelnd drückte sie auf die Anruftaste und versuchte es noch einmal. Sie lauschte.
    Nichts.
    Sie drückte auf die Taste mit dem grünen Telefon. Wieder und wieder.
    Die Leitung war tot.
    Das Handy lag in der Küche. Sie musste zurück in den Zwischenflur.

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