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Verfallen

Titel: Verfallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Zurück zu Bernard und dem Blut.
    Die polternden Geräusche, die aus dem Büro drangen, erfüllten sie zunächst mit Erleichterung. Sie sah, wie sich ein Schatten durch den Raum bewegte. Die hochgewachsene Gestalt, die hinter der Milchglasscheibe der Tür vorbeiging, konnte nur ihr Ehemann sein.
    Bernard lebte noch. Er lag nicht tot in einer Blutlache, er lief springlebendig herum und hockte sich jetzt vor den Schrank, um den Tresor zu inspizieren.
    In einem Impuls stieß sie die Tür auf und sah Bernard noch immer in derselben Haltung vor dem Schreibtisch kauern, halb sitzend, halb liegend. Graue Haut. Tote Augen.
    Hinter ihm hockte ein Mann vor dem Tresor. Die Wildschweinmaske hatte er vom Kopf in den Nacken geschoben. Seine behandschuhte Rechte griff gerade nach den letzten Geldscheinen und steckte sie in die Taschen seiner Armeejacke.
    Er hörte sie hereinkommen, drehte sich um und erstarrte. Er blickte ihr genau in die Augen, ohne die geringste Regung.
    Sie schnappte nach Luft. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht.
    Sie kannte den Mann mit der Maske.
    Sie kannte jede Stelle seines Körpers.
    Der Mann mit der Maske war der Vater ihres ungeborenen Kindes.
    Er sprang auf. Starrte sie ungläubig und erschrocken an. »Patricia …?«
    Vollkommen verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie wollte das nicht glauben. Das konnte nicht wahr sein. Sie war verrückt geworden, wahnsinnig, sie hatte Halluzinationen, so musste es sein.
    Das konnte nicht geschehen. »Das … das ist unser Geld«, stotterte sie, fast atemlos.
    Danach schaute sie Bernards Leiche an, wie in Zeitlupe. Noch immer lag er still und leblos auf dem Boden, mitten in seinem gerinnenden Blut. Dann blickte sie wieder zu dem Eindringling, der sie seinerseits erschrocken ansah.
    Endlich fiel ihr Blick auf Bernards Handy, das auf dem Schreibtisch zwischen ihnen lag. Zwei, drei Schritte nur, und sie konnte Hilfe holen. Sie musste anrufen. Den Notruf wählen.
    Sie schluckte, unkontrolliert am ganzen Körper zitternd. Sie ging einen Schritt nach vorn. Und noch einen.
    Bevor sie den Arm ausstrecken konnte, sprang er auf. Die Zähne zusammengebissen und mit einem fremdem, harten Gesichtsausdruck, den sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Jetzt lag keine Verwirrung mehr in seinen Augen, keine Unsicherheit und keine Liebe, nur noch eiskalte Berechnung.
    Sie rannte los. In blinder Panik sprang sie über Bernard hinweg nach draußen, sprintete über den Hof und an den Scheunen vorbei, so schnell sie konnte. Niemand konnte sie aufhalten, sie flog förmlich über das Stoppelfeld und merkte nichts von den zahllosen Steinen und Lehmklumpen – ihr wuchsen Flügel. Erst am Waldrand blickte sie sich um.
    Er hatte die Verfolgung aufgenommen.
    Aber sie hatte einen großen Vorsprung. Sie konnte es schaffen.
    Sie musste es schaffen.
    Für Christian und Noélie.
    Und für das Baby in ihrem Bauch.

43
    Heute Morgen wurde Dianne vom Operationssaal aus direkt auf die Intensivstation gebracht. Die Ärzte haben die ganze Nacht um sie gekämpft. Insgesamt hat die Operation fast sechs Stunden gedauert.
    Dianne schlief noch, als ich zu ihr durfte. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so viele Schläuche in einem Menschen gesehen zu haben. Ratternde und leise summende und piepsende Maschinen waren im Halbkreis um das Kopfende ihres Bettes gruppiert. Beutel mit Flüssigkeiten hingen am Bett und an fahrbaren Infusionsständern. Ich erkannte sie kaum wieder, so klein und nichtig sah sie aus inmitten der vielen Apparate, die sie am Leben erhalten sollten. Ihre Haare waren verfilzt. Sie reagierte nicht, als ich ihr über den Arm strich. Aber sie lebte.
    Patrick Rodriguez, einer der Chirurgen, die Dianne operiert hatten, riet mir mit besorgter Miene, mich nicht zu früh zu freuen. Dass sie die Operation überlebt habe, sage noch nichts über ihre weiteren Chancen aus. Eine Prognose wagten sie noch nicht. Sie hätten getan, was sie konnten, und jetzt bleibe uns nichts anderes übrig als abzuwarten.
    Schweren Herzens habe ich Diannes Mutter angerufen und ihr eine stark verkürzte, nicht ganz wahrheitsgemäße Version der Ereignisse durchgegeben. Ich finde, dass Dianne ihrer Mutter selbst erzählen sollte, was genau geschehen ist – später, wenn es ihr wieder besser geht.
    Gerda will versuchen, noch heute ein Flugzeug oder einen Zug zu erwischen oder irgendjemanden aufzutreiben, der sie mit dem Auto in diesen entlegenen Winkel Frankreichs bringt.
    Nach dem Telefonat kehrte ich zurück auf die

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