Verfallen
rieche ich einen Hauch Zitrone – Desinfektionsmittel.
In Gedanken versunken laufe ich zwischen den Zäunen hindurch. Zeitungen vom letzten Jahr wehen leise im Wind. Eine Katze huscht über ein Wellblechdach davon, als ich vorbeikomme. Überall liegen Haare. Braune, weiße, melierte. Lange und kurze.
Danny Malfait hat nicht nur Hunde gezüchtet, sondern auch ganze Lkw-Ladungen von Welpen aus den ehemaligen Ostblockländern importiert. Jeder, der bezahlte, wurde von ihm mit frischen jungen Hunden beliefert. Seine Kunden kamen von weit her, aus Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Tiere, die nicht niedlich genug, zu krank oder alt waren, um das Herz der Hundekäufer zu gewinnen, wurden gnadenlos getötet. Zuchthündinnen, die keine Welpen mehr gebären konnten, erlitten dasselbe Schicksal. Einige landeten in den Versuchslaboren der Kosmetikindustrie.
Ich habe letzte Nacht alles gesehen und gelesen. Ich habe mich durch heimlich aufgenommene, Übelkeit erregende Fotos, viele Seiten von Daten und zahllose Forenberichte gekämpft, um mir ein besseres Bild von diesem Züchter und der teils verborgenen Welt machen zu können, zu der er gehörte. Eine Welt, die auf einmal deutlich greifbar wird, jetzt, wo ich mitten in den stinkenden Überresten stehe. Obwohl keine Tiere mehr hier sind, ist ihre Verzweiflung noch immer spürbar.
Ob Hugo Dianne hierher gebracht hat? Hat er ihr diesen oder einen anderen, vergleichbaren Albtraum präsentiert? Wie leicht muss es gewesen sein, sie inmitten der wehrlosen Tiere davon zu überzeugen, dass er recht hatte! Schon allein der Anblick hätte sie zornig gemacht. Rasend vor Wut.
Ich kann sie gut verstehen. Ich muss die Tiere nicht einmal selbst gesehen haben, um zu begreifen, wie verführerisch es sein muss, seine Wut an dem Verursacher des ganzen Elends auszulassen.
Doch was Hugo getan hat, bleibt unbegreiflich. Angst und Terror zu säen kann nicht die Lösung sein, nein: Sie darf es nicht sein.
Und zu morden schon gar nicht.
Danny Malfait lebt nicht mehr. Konfrontiert mit dieser Szenerie frage ich mich unwillkürlich, was das für die armen Tiere geändert hat. Meinen Recherchen nach vermute ich: so gut wie gar nichts. In diesem Geschäft steckt viel Geld, und solange die Nachfrage nach billigen Welpen bestehen bleibt, wird es auch diese Art von Zuchtfabriken geben. Malfaits Kollegen haben schon längst seinen Platz eingenommen. Sein Tod war sinnlos.
Doch Probleme zu lösen war gar nicht Hugos Hauptanliegen.
Der Anblick der exotischen Jagdtrophäen im Hause Sanders hat mich nur in meinen Vermutungen bestärkt. Hugo muss durch Zufall in die Kreise der extremistischen Naturliebhaber hineingeraten sein. Wäre er in einem anderen Milieu aufgewachsen, hätte sich sein blinder Fanatismus ebenso gut gegen Menschen mit einem anderen Glauben, einem anderen Geschlecht oder einer anderen politischen Überzeugung richten können. Gefährliche Irre wie Hugo Sanders stürzen sich auf alles, was sich gerade bietet, um ihre tödliche Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen.
»Die gute Sache« ist Hugo vermutlich völlig schnuppe. Hugo interessiert sich nur für Hugo.
Und solange seine einflussreiche Familie hinter ihm steht, kann er sich fast ungestraft austoben.
»Hier ist es passiert.« Die Stimme von Krystel Malfait reißt mich aus meinen Gedanken. Sie stellt sich neben mich und zupft zwanghaft an den Ärmeln ihrer groben Strickjacke.
»Hier hat er gelegen, hier haben wir ihn gefunden.« Sie zeigt auf eine Stelle zwischen einer Reihe von Zwingern und einer Koniferenhecke. Danny Malfaits Tochter hat kaum noch Fingernägel; sie hat sie bis auf rot entzündete Stummel abgekaut. Krystel hat sommersprossige Haut, trägt kein Make-up, und ihr aschblondes Haar fällt ihr strähnig auf die Schultern.
»Er wurde erschossen?«, frage ich, obwohl ich es natürlich weiß.
»Es war ein Kopfschuss«, flüstert sie leise. Dann beißt sie die Zähne zusammen und sieht mich an, mit Augen, die viel geweint haben, so viel und so lange, dass sich die Trauer dauerhaft in ihre Züge eingegraben hat.
Ich stelle eine Frage nach der anderen und schreibe ihre Antworten sorgfältig auf, begleitet von gelegentlichen Notizen zu ihren Gesten oder dem Tonfall ihrer Stimme.
Heute betreibe ich investigativen Journalismus und versuche, genau wie mein Gegenüber, meine Gefühle so weit wie möglich zu unterdrücken. Krystel will, dass die Wahrheit ans Licht kommt, dass der Mörder ihres Vaters gefasst wird und
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