Verfallen
sie diesem eines Tages in die Augen sehen kann. Sie will wissen, wie er heißt, wie alt er ist, woher er kommt. Sie will vom Täter selbst hören, was ihn zu seiner Tat getrieben hat.
Krystel Malfait will Antworten auf zahllose Fragen, auch wenn sie tief im Inneren längst vermutet, dass es keine befriedigenden Antworten gibt.
Als ich in mein Auto steige, habe ich letztendlich nicht den Mut aufgebracht, ihr zu erzählen, dass ich den Mörder ihres Vaters kenne. Dass er frei herumläuft und auf einem Landgut in den Niederlanden wohnt, vierhundert Kilometer nördlich von ihrem Dorf.
Ich hatte ihr sagen wollen: Der Mörder deines Vaters hat auch meine allerliebste Freundin umgebracht. Und eines Tages wird er dafür büßen. Das garantiere ich dir.
Aber ich habe nichts gesagt.
Direkt vor der Tür ist kein Parkplatz mehr frei. Erst zwei Straßen weiter finde ich einen. Es wird schon dunkel, und der Wind fühlt sich eisig und winterlich an.
Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu bis unters Kinn, vergrabe die Hände in den Taschen und gehe den Bürgersteig entlang nach Hause.
Viele Leute in meinem Viertel lassen abends die Gardinen offen. Im Vorbeigehen sehe ich sie in ihren Wohnzimmern sitzen, essen oder Geschirr spülen. In einigen Häusern brennt kein Licht.
Wenn ich an diesen dunklen Fassaden und an den dunklen Brandgassen vorbeikomme, die auf die Straßen münden, beschleunige ich meine Schritte.
Als ich schon fast zu Hause bin, hole ich schon einmal den Schlüssel aus der Innentasche und halte ihn bereit. Die Wut, die mich den ganzen Tag über vorangetrieben hat, ist abgeflaut. Jetzt herrscht wieder die Angst vor.
Furchtsam blicke ich mich um, zu den Gassen, den Haustüren, den Autos. Zahllose Schatten und Geräusche zerren an meinen angespannten Nerven.
Angenommen, ich darf mich nicht so sicher fühlen, wie ich mir vorgegaukelt habe?
Angenommen, Hugo versucht wirklich, mich zum Schweigen zu bringen?
Angenommen, es war unverzeihlich naiv von mir, ihn sehen zu wollen?
Er könnte es als Unglück tarnen – ein Autounfall, ein Treppensturz.
Er ist schon mit so vielem durchgekommen.
Gehetzt öffne ich die Haustür und schließe sie sorgfältig hinter mir. Im Dunkeln bleibe ich stehen, unruhig atmend. Mein Herz klopft gegen meine Rippen.
Dann wird mir plötzlich glasklar bewusst, dass das nicht so weitergehen kann. Zu lange schon habe ich tatenlos zugesehen.
Ich muss etwas tun, damit das aufhört, ich muss mich jetzt wirklich ins Zeug legen.
So schnell wie möglich.
55
»Meneer Bosveld ist sehr beschäftigt, er kann Sie jetzt nicht empfangen.«
»Auch nicht am späten Nachmittag?«, frage ich.
Von ihrer niedrigeren Position hinter dem Empfang aus wirft mir die Rezeptionistin einen Blick zu, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »Sein Terminkalender ist auf Wochen hinaus voll.«
Ich weiß, dass die Empfangsdame Lonny Vriesekoop heißt, damit hört es auch schon auf. Weiter als »hallo« und »schönes Wochenende« ist unsere Konversation nie gediehen in dem halben Jahr, in dem ich hier gearbeitet habe. Aber ich brauche sie nicht gut zu kennen, um zu wissen, dass sie eiskalt lügt.
»Aber ich muss ihn sprechen!«, dränge ich.
»Dann müssen Sie einen Termin machen.«
»Gut.« Mit größter Mühe bewahre ich die Geduld. »Dann tun Sie das bitte. Machen Sie einen Termin.«
Lonnys Gesichtsausdruck bleibt unverändert. »Den Terminkalender verwaltet seine Sekretärin.«
Mit einem Nicken deute ich auf das Bedienungsfeld der Telefonanlage. »Können Sie sie dann bitte anrufen? Wo ich schon einmal hier bin.«
»Versuchen Sie es lieber morgen früh selbst. Mevrouw Swegerman ist heute nicht im Hause.«
»Na schön«, erwidere ich gereizt. »Dann eben nicht.«
Grußlos marschiere ich hinaus und komme an einigen Männern vorbei, die unter dem Vordach stehen und rauchen. Sie sind ins Gespräch vertieft und bemerken mich kaum.
Ich vergrabe die Hände tief in den Jackentaschen und laufe mit gesenktem Kopf weiter über den Parkplatz.
Die Bäume am Rand sind fast kahl. Ihre letzten Blätter wirbeln und winken im Wind, unwillig, die Zweige loszulassen und hinunter auf das nasse Pflaster zu taumeln.
Schon den ganzen Tag ist es kalt und regnerisch. Im Grunde hat es seit meiner Rückkehr aus Belgien vor vier Tagen gar nicht mehr aufgehört zu stürmen und zu regnen.
In der Mitte des Parkplatzes halte ich inne und drehe mich um. Ich blicke an dem großen Gebäude hoch. Es ist grau und
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