Verflixtes Wolfsgeheul (Verflixte Bücher) (German Edition)
schreien, um gegen den Wind anzukommen.
„Weiß auch nicht“, brüllt er zurück. „Bin einfach in das Dorf galoppiert und habe den erstbesten Mann angeschrien, er solle mir sofort sagen, wo du steckst. Da hat er auf die Hütte gezeigt – und dann bin ich da rein!“
Das ist ziemlich mutig, stelle ich fest. Bei der nächsten Gelegenheit will ich das meinem besten Freund mitteilen, nur jetzt schwirrt uns anderes im Kopf herum.
„Was ist mit Großvater? Ich wusste nicht, dass es ihm schlecht geht.“
„Er wollte auch nicht, dass wir es wissen. Er hat sich verstellt und uns alle getäuscht. Doch jetzt kommt er nicht mehr aus dem Bett heraus. Er hat gesagt, dass jedes Unkraut einmal verwelkt und wir den Lauf des Lebens akzeptieren sollen.“
Benar wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Ich wusste nicht, dass ihm Großvater so nahe steht, aber vermutlich ist er bei allen in der Stadt sehr beliebt.
„Großvater hat nach dir gefragt. Er hat gesagt, ich solle dich holen, es wäre sehr wichtig. Da bin ich losgespurtet. Wirst du Ärger bekommen?“
Ich winke ab. „Ich bekomme immer Ärger, egal, was ich mache. Das ist nichts Neues.“
Wir lassen die Pferde vor der Burg stehen und rennen die Treppen hoch. Doch da ich nicht weiß, wo Großvaters Zimmer liegt, muss ich öfter auf Benar warten, weil ich die Stufen viel schneller hinaufspurte.
Bevor Benar hechelnd eine Türe öffnet, wische ich mir schnell meine dreckigen Hände an meinem schmutzigen T-Shirt ab.
So leise es geht treten wir ein.
Ich sehe ein Bett in einem halbdunklen Raum stehen, doch von Großvater kann ich nichts entdecken. Die Vorstellung, dass er mich in seiner letzten Stunde sehen will, treibt mir die Tränen in die Augen, und dafür schäme ich mich ein bisschen. Ich kenne ihn doch kaum, wieso will er überhaupt mit mir sprechen?
Mari steht mit einer Kanne Tee am Bettrand, die Augen gerötet. Auf der linken Seite sitzt eine Frau mit langen, braunen Locken, sie hat den Kopf und die Schultern gebeugt und schluchzt leise. Vorsichtig wischt sie Schweiß von Großvaters Stirn, den ich beim Näherkommen endlich doch erkenne. Auf der anderen Seite sitzt Tora. Noch nie habe ich ihn in einer solchen Verfassung gesehen. Er wirkt nicht eine Spur selbstsicher, sein Kopf ist gesenkt und die Augen trüb.
„Nadine ist hier, Großvater“, flüstert er und streicht dem Kranken über die Hand.
„Geht!“, haucht der Alte leise.
Ich erschrecke, als ich sein eingefallenes Gesicht sehe. Wo ist bloß die Lebendigkeit geblieben, die ich noch vor Kurzem in seinen Augen entdeckt hatte?
Tora drückt seine Hand so fest, dass ich denke, er würde sie zerbrechen wollen. Wortlos dreht er sich um und verlässt den Raum. Mich hat er nicht einmal angesehen.
Die Frau streichelt Großvater über die Wangen.
„Wir werden dich nie vergessen!“, sagt sie und ihre Stimme schwankt.
Mari eilt zum Bett, umarmt den Mann und gibt ihm einen Kuss auf die Wange, dann läuft sie mit der Frau hinaus. Benar schluchzt leise und schließt hinter sich die Tür. Dann bin ich mit Großvater allein.
Er streckt die Hand nach mir aus.
„Nadine!“
Ich beuge mich weit über ihn, um ihn zu verstehen, und erschrecke über seine müden Augen.
„Du darfst nicht weinen“, sagt er und wischt mir eine Träne von der Wange. „Hörst du? Ich verbiete es dir!“
„Mir kann niemand etwas verbieten“, flüstere ich.(1)
Großvater lächelt. Ich sehe seinen Lippen an, dass sich das Leben schon weit davongestohlen hat, und es tut mir im Herzen weh, weil ich ihn noch sehr fröhlich in Erinnerung habe.
„Das weiß ich, meine Kleine.“ Er hält beim Sprechen inne und schließt für einen Moment die Augen, um neue Kraft zu sammeln. „Sie sollten dich als Vorbild nehmen. Aber Tora will mir nicht zuhören.“
Seine zitternde Hand wühlt unter der Bettdecke und zieht eine Kette mit einem ovalen Stein hervor. „Den habe ich für dich aufgehoben … Es ist ein Talisman, der … der dich zu … zu deinem … deinem Ziel … bringen wird.“
Ich nehme den Talisman entgegen. Es scheint ein unbedeutender Stein zu sein, er schimmert schwach, ist kaum größer als ein Cent-Stück und genauso flach. Trotzdem drücke ich ihn an meine Brust.
„Danke, Großvater, ich weiß es zu schätzen. Großvater?“
Der Mann hat seine Augen geschlossen. Seine Lippen zittern nicht mehr und ich weiß sofort, dass er seinen letzten Atemzug getan hat.
Mein Kopf sinkt auf seine Brust und ich fange an zu
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