Verflucht himmlisch
Schließlich würde es auch reichen, wenn er erst einen Tag vor seiner Ankunft Bescheid gab. Jemand wie David Belle hatte unter Garantie viel zu tun und bekam täglich Hunderte von E-Mails. Sicherheitshalber schickte Seppo das Filmchen zusätzlich auf DVD gebrannt, denn vielleicht hatte David unsere Mail für Spam gehalten und gelöscht.
Doch mein Training geriet zu einem Fiasko, Leander sei Dank. Er machte mich damit oft so wütend, dass ich ihn hätte umbringen können. Er verknotete die Schnürsenkel meiner Turnschuhe, versteckte meine Trainingsklamotten oder warf sie in die Wäsche (keine Ahnung, wie er herausfinden konnte, wie die Waschmaschine funktionierte), verstellte meine Uhren, goss mir ein Glas Wasser über die Haare, sodass ich mich erst noch trocken föhnen musste, bevor ich hinaus in die Kälte ging, und wenn ich es dann doch geschafft hatte, nach draußen zu kommen, warf er sich ständig gegen mich oder hängte sich an mich, damit ich nur elend langsam vorwärtskam und immer wieder die S-Bahn verpasste.
Eines Tages wagte er es sogar, meine Zimmertür von innen abzuschließen und den Schlüssel in seine Hosentasche zu stecken. Ich war so außer mir, dass ich aufs Fensterbrett hechtete und ihm weismachte, mich kopfüber an der Hauswand herunterzulassen, wenn er nicht sofort die Tür öffnete. Nach zehn Minuten entnervender Diskussion und etlichem halsbrecherischen Androhen meinerseits, bei dem ich beinahe auf die Straße stürzte, gab er Gott sei Dank nach.
Das alles konnte mich natürlich nicht daran hindern, in den Park zu gehen, aber meistens war ich so gestresst und genervt und verschwitzt, wenn ich endlich bei den Jungs war, dass nichts klappte. Es hatte ohnehin kaum Sinn, denn auch beim Training wich Leander nicht von meiner Seite. Er klebte an mir wie ein feuchtes Bonbon. Alles, was ich anpackte, misslang. Ich konnte sein Gewicht einfach nicht mittragen. Er fühlte sich nicht so schwer an wie ein Mensch, aber schwer genug. Ich torkelte wie eine Betrunkene, konnte mich nicht mal mehr länger als ein paar Sekunden an die Reckstange hängen oder gar über den Papierkorb springen. Und es machte mich rasend.
»Hast ganz schön nachgelassen, Luzie«, sagte Guiseppe eines Nachmittags, als ich völlig außer Atem auf der Parkbanklehne saß und mir zum tausendsten Mal den Kopf zermarterte, wie ich Leander loswerden konnte.
»Hmpf«, knurrte ich missmutig.
Es war zum Heulen. Seitdem ich nichts mehr zustande brachte, behandelte Seppo mich wie ein kleines Kind. Und ziemlich kühl dazu. Vielleicht war ich ihm sogar peinlich.
»Du bist irgendwie anders seit deinem Sturz«, fuhr Seppo nachdenklich fort.
»Wie – anders? So ein Quatsch!«, motzte ich ihn an. »Ich bin nicht anders. Ich muss wieder fit werden, das ist alles.«
»Na, du schaust dauernd irgendwohin, wo nichts ist, konzentrierst dich nicht auf deine Bewegungen, bist zerstreut und abgelenkt. Und ansonsten …«
»Das wird schon wieder!«, giftete ich. »Und jetzt lass mich in Ruhe.«
Ich schämte mich. Seppo hatte ja recht mit dem, was er sagte. Es war Leander, den ich anschaute, und zwar halb blind vor Zorn, aber das konnte niemand begreifen außer mir. Die anderen kapierten nicht, warum ich finster ins Nichts schaute.
Tag für Tag hoffte ich, dass Leander aufgeben und mich ihn Frieden lassen würde. Doch das tat er nicht. Und wenn er mir wieder einmal mein Training ruiniert und mich vor den Jungs lächerlich gemacht hatte, war meine Welt erneut ein Stückchen dunkler geworden.
Silberstreif
»Luzie, wann kommst du? Frühstück!«
Mein Kalender zeigte den ersten Dezember, Leander war immer noch da und nervte immer noch, und Mama konnte es kaum erwarten, dass ich endlich mein Zimmer verließ. Sie hatte es nicht lassen können, mir wieder einen (rosaroten) Adventskalender zu basteln, mit dem sie mich jetzt überraschen wollte. Aber ich hatte ihn heute Nacht schon gesehen, als ich in der Küche Essen für Leander klauen musste.
»Komme gleich!«, brüllte ich und sah an Leander vorbei aus dem Fenster. Das Wetter hatte sich verändert. Kein Regen mehr, stattdessen Nebel, der sich langsam auflöste. Die Morgensonne begann bereits, sich durch die silbergrauen Schwaden zu kämpfen, und das Dach der Kirche glänzte golden. Es war kälter geworden. Ich freute mich darauf, nach draußen zu gehen. Ich mochte den Winter.
Doch erst musste ich mich Mamas Weihnachtsfieber stellen. Mama war völlig vernarrt in Weihnachten. Schon am Wochenende hatte
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