Verflucht himmlisch
und keine Fensterbrettsprünge, verstanden? Und lass das Fenster offen. Ich bin bald zurück.«
Ich nickte widerwillig. Mir war alles recht, solange ich ein wenig allein sein konnte. Ich beobachtete mit einem unruhigen Flirren im Bauch, wie Leander sich auf das Sims stellte, die Arme ausbreitete und schwankend das Dach betrat. Dann verschwand er balancierend aus meinem Sichtfeld. Ich lauschte. Nein, ich hörte kein Schreien oder Stöhnen. Auch keinen Aufprall. Entweder hockte er irgendwo auf unserem Dach und wusste weder vorwärts noch rückwärts oder sein Körper hatte sich nach einigen Metern aufgelöst. Ich wartete einen Moment ab. Dann trat ich ans Fenster und schaute raus. Er war nirgendwo zu sehen. Nicht einmal blautransparent. Ich atmete erleichtert aus und zog mich auf mein Bett zurück. Leander war kaum in der Schwärze der Nacht verschwunden, als unsere Wohnungstür klappte und Mama und Papa aus dem Keller zurückkehrten. Ich hörte den Korken einer Weinflasche ploppen und Gläser klirren. Also hatten sie sich versöhnt.
Ich verdrückte mich ins Bad, wo es noch nach Leanders Duschgelorgie roch, putzte mir die Zähne und kuschelte mich tief in mein Bett. Draußen hatte es zu regnen begonnen. Schön, dachte ich. Dann wird ihm ordentlich kalt in seinem albernen Westchen. Als ich die Augen schloss, sah ich Leanders Tattoo vor meinen geschlossenen Augen aufblitzen. Mea maxima culpa. Tragischer ging es ja kaum mehr. Trotzdem ließen mich die Engelsflügel nicht los.
Die Kirchturmuhr schlug noch dreimal, bis ich endlich eindämmerte. Erst als ich den Fenstergriff quietschen hörte und ein Hauch Duschgel meine Nase streifte, wurden meine zittrigen Lider schwer und meine Gedanken verschwammen.
Doch irgendwann mitten in der Nacht wurde ich wach, weil mein rechtes Ohr freilag und eiskalt wurde. Ich war eigentlich zu träge, um meine Arme aus meinem Kokon zu schälen und anschließend alles wieder neu zu arrangieren, doch ich durfte keine Ohrentzündung riskieren. Ohrentzündungen hatte ich als Kind genug gehabt. Mit geschlossenen Augen lag ich da und überlegte, ob ich weiterschlafen oder mich neu einwickeln sollte. Noch während ich nachdachte, nahm ich eine Bewegung neben mir wahr. Meine Bettdecke raschelte leise und der Deckenzipfel legte sich zurück auf mein Ohr. Dann spürte ich, wie mein Kokon vorsichtig stabilisiert wurde. Jetzt war mir wieder überall mollig warm. Ich gähnte genüsslich und mein Körper wurde schwer. Träumte ich? Oder war das wirklich passiert?
»Glaub bloß nicht, dass das immer von allein hält, chérie. Ich mache das mindestens fünfmal pro Nacht.«
Leander? War das Leanders Stimme gewesen? Ich konnte es nicht sagen. Ich schlief schon wieder ein.
Den Rest der Nacht verfolgten mich chaotische Träume, in denen Elvis’ Badezimmerteppich und Leanders Tattoo lebendig wurden und mich verfolgten, und ich drehte mich unruhig hin und her, um ihnen zu entkommen.
Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich immer noch bis zur Nasenspitze eingepackt.
Klimaverschlechterung
In den nächsten beiden Wochen verwünschte ich den Tag, an dem Leander sich in mein Leben geschlichen hatte, immer öfter. Gut, er war seit meiner Geburt an meiner Seite gewesen, aber ich hatte ihn weder gesehen noch gehört und erst recht nichts von seiner Existenz gewusst. Und offensichtlich hatte er sich nicht allzu große Mühe gegeben, mich zu kontrollieren oder nach allen Regeln der Kunst zu beschützen. Er pflegte zwar stets zu behaupten, dass ich längst nicht mehr da gewesen wäre, wenn es ihn nicht gegeben hätte, doch Leander neigte zum Prahlen und Angeben. Sky Patrol hier, Sky Patrol da. Blablabla.
Ich hoffte jeden Tag vergeblich darauf, dass er ein Zeichen von seinen Eltern erhielt, ja, dass sie ihn endlich begnadigen und ihm einen anderen Schützling geben würden. Denn er trieb mich langsam, aber sicher in den Wahnsinn. Zugegeben, es gab Stunden, in denen wir es recht gut miteinander aushielten und die Stimmung einigermaßen friedlich war. Zum Beispiel dann, wenn er mir bei den Französischhausaufgaben half. Leander sprach ein klares und melodisches Französisch, Welten entfernt von dem hektischen Gezischel meiner Lehrerin. Ich hörte ihm gerne dabei zu. Wenn er französisch redete, verstand ich sogar das ein oder andere Wort. Und wenn er gut gelaunt war, nannte er mich spöttisch »chérie«. Ich schlug heimlich nach, was es bedeutete, als er seinen Nachtflug machte. Es hieß so viel wie »mein
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