Verflucht himmlisch
sollte ich ihnen sagen? »Da, nehmt ihn bitte wieder mit, er nervt mich«? Gut, ich konnte Leander zu achtzig Prozent der Zeit nicht ausstehen, aber ich fragte mich, was danach mit ihm passieren würde – vielleicht würde ihm ein noch schlimmerer Fluch widerfahren? Oder würden sie ihn gar töten? Denn wenn ich seine Eltern ansprach und sie bat, ihn mitzunehmen, verriet ich zwangsläufig, dass ich Leander sehen und hören konnte. Und noch ging er davon aus, dass seine Truppe das nicht wusste. Aber es war unsinnig, darüber nachzudenken. Ich sah die anderen nicht. Ich konnte nicht mit seinen Eltern sprechen. Außerdem war ich keine Petze.
Nein, mir musste etwas Besseres einfallen. Ich wollte die Doppelstunde Französisch dazu nutzen, in Ruhe nach einer weiteren Möglichkeit zu suchen, bei der ich Leander nicht ans Messer liefern würde (auch wenn ich manchmal Lust dazu hatte). Irgendeine Lösung musste es geben. Wie sagte Papa immer? »Für jedes Problem gibt es eine Lösung. Man muss nur lange genug danach suchen.«
Als ich zum Frühstück in die Küche schlurfte, war Mama gerade damit beschäftigt, einen Klumpen Plätzchenteig auszurollen. Schwitzend und fluchend presste sie das Nudelholz auf den fettglänzenden Kloß, doch der ließ sich nicht flach drücken, sondern klebte lieber an Mamas Händen fest. Ihre Arme waren mehlbestäubt und ihre Locken standen wild zu Berge. Sie sah nicht glücklich aus.
»Vielleicht versuchst du es mit ein bisschen weniger Kraft und etwas mehr Feingefühl, meine Liebe«, schlug Papa ihr vor.
Im nächsten Moment schoss das Nudelholz durch die Küche und haarscharf an Papas grauem Kopf vorbei. Er hob die Augenbrauen an, wartete den Aufprall ab und köpfte seelenruhig sein Ei. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Mama das Diskuswerfen fehlte. Das Nudelholz war mit voller Wucht gegen die Wand gedonnert und hatte eine dicke Kerbe in der Tapete hinterlassen.
Ich stopfte mir einen Krümel Keksteig in den Mund, nahm einen Schluck Milch und drückte Mama einen Kuss auf die Wange. In ihren Augen glitzerten schon wieder Tränen.
»Nicht weinen, Mama«, versuchte ich sie zu trösten. »Weihnachten ist auch ohne Plätzchen schön.« Eigentlich sogar schöner als mit Mamas Plätzchen, führte ich meine Worte insgeheim fort.
»Moment, Luzie!«, rief sie, als ich in den Flur gehen wollte. Was war denn jetzt los? Sie winkte mich zu sich rüber und legte mir prüfend die Hand auf die Stirn. Ich zog sie rasch weg.
»Ich hab ziemlich lange heiß geduscht«, sagte ich schnell. »Ich bin nicht krank!«
Sie hob die Augenbrauen, ließ mich aber gehen.
Im Französischunterricht wurde mir klar, dass ich mal wieder gelogen hatte. Na ja, so halb jedenfalls. Ich war noch nicht krank. Aber ich wurde krank. Denn ich konnte mich nicht eine einzige Sekunde auf die Lösung meines Problems konzentrieren, weil das Klopfen in meinem Ohr immer lauter wurde und auch das Schlucken zu schmerzen begann. Ich stützte mein Gesicht in die Hand, zog mir den Kragen hoch und wartete, bis der Schultag vorüber war. Dann legte ich mich mit einer Wärmflasche unter dem Ohr ins Bett und hoffte, dass ich bis morgen gesund werden würde.
Leander schien es nichts auszumachen, dass ich mich schlecht fühlte. Glücklich sah er allerdings auch nicht aus. Er saß stumm und grübelnd in der Ecke und schaute mich kein einziges Mal an. Das Abendessen verweigerte er und so aß ich seine Portion notgedrungen auf, obwohl ich nicht den geringsten Appetit hatte.
Die Nacht war eine Tortur. Urplötzlich verwandelten sich die dumpfen Schmerzen in das grelle Ziehen, das ich schon aus Kindertagen kannte. Ich wälzte mich hin und her, doch ich fand keinen Schlaf, und zwischendurch fror ich immer wieder so, dass ich beinahe mit den Zähnen zu klappern begann. Verfluchter Mist, das war eine Mittelohrentzündung. Aber ich war dreizehn, keine sechs mehr, und ich hatte morgen mein erstes Date, ein Date mit Seppo, und wenn ich die Zähne zusammenbiss und erst einmal im Kino war, würde ich die Schmerzen sicher vergessen. Danach konnte ich krank sein, von mir aus – an das Treffen mit David wollte ich gar nicht erst denken, eins nach dem anderen –, aber das Date mit Seppo würde stattfinden.
Ich hatte Glück im Unglück. Die Grippewelle schwappte nun auch in den Hemshof und morgens musste Papa zwei Omas und einen Opa auflesen und zu uns bringen, alle drei weit über achtzig. Leander seufzte schwer, als Papa die Behelfssärge zusammen mit Mama
Weitere Kostenlose Bücher