Verflucht sei Dostojewski
belagert wird, die aus seinen Alpträumen entflohen sind: die Frau im himmelblauen Tschaderi, Yarmohamad, mit einem Messer bewaffnet, Razmodin mit seinen Moralpredigten und sogar Dostojewski mit seinem Verbrechen und Strafe …
Seine schwankenden Schritte schlagen den Weg zu Suphias Haus ein.
Was willst du bei ihr?
Ich brauche sie, sie und niemanden sonst. Ich brauche es, dass sie mich aufnimmt in die Reinheit ihrer Tränen, in die Schlichtheit ihres Lächelns, in die Lücke zwischen ihren Atemzügen … bis ich an ihrer Unschuld sterbe.
Mit anderen Worten, du brauchst ihre Naivität, ihre Zerbrechlichkeit, um dich freizusprechen. So ist es! Lass sie in Ruhe. Zieh sie nicht hinein in deinen Abgrund.
Er bleibt stehen.
Ich werde ihr alles ins Heft schreiben und es ihr geben. Ich werde ihr das Leben zurückgeben.
Er beschleunigt seine Schritte. Die Schritte eines Hinkenden. Eines Betrunkenen.
ER HAT MÜHE, DIE Treppe hochzusteigen, die Tür zu erreichen, ins Zimmer zu schlüpfen. Und als er es schließlich geschafft hat, ist er überrascht, wie aufgeräumt und sauber alles ist. Seine Kleider sind ordentlich gefaltet, die Bücher in einer Ecke gestapelt; auf dem Boden keine einzige Scherbe von der Fensterscheibe.
Wer ist gekommen und hat sich so viel Arbeit gemacht für ihn? Rona, Yarmohamads Frau, natürlich. Sie war es, wie schon früher.
Er geht ans Fenster, blickt zu Yarmohamads Haus hinüber. Der Hof ist leer. Hinter den Scheiben kein Schatten. Ein innerer Rausch überfällt ihn, siegt über seine Verblüffung beim Anblick des so ordentlichen Zimmers und den drängenden Wunsch, Suphia alles aufzuschreiben.
Aber worüber freut er sich eigentlich? Über den Triumph über Yarmohamad, der seine Frau nicht daran hindern konnte, sein Zimmer sauber zu machen?
Welch ein hochmütiger Mann!
Die nichtswürdige, kindische Freude fällt in sich zusammen, als er das berühmte Heft sieht, das schön ordentlich in der Fensteröffnung liegt. Er stürzt sich darauf. Hat Rona es aufgeschlagen, hat sie seine Gedichte und intimen Gedanken für Suphia gelesen? Und den letzten Satz, »Heute habe ich nana Alia getötet« ?
Das Heft zittert in seinen Händen. Er öffnet es auf der letzten Seite und liest: »Heute habe ich nana Alia getötet.« Er setzt sich auf die Matratze. Dann, nach langem Nachdenken, nimmt er den Stift und fügt hinzu: »Ich habe sie für dich getötet, Suphia.«
Für sie? Und warum?
Ich werde ihr schreiben, warum. Aber zuerst will ich von ihr sprechen, von ihrer zerbrechlichen Unschuld, von all dem, was ich nie mit klaren, schnörkellosen Worten sagen konnte. »Suphia, ich habe dich nie geküsst. Weißt du, warum? …« Schritte auf der Treppe gebieten den Worten an der Spitze seines Stiftes Einhalt. Eine sanfte weibliche Stimme ertönt: »Rassul dschan , ich bin’s, Rona.« Er springt auf und öffnet die Tür. »Guten Tag«, sagt sie schüchtern. Sie hält ein Tablett in den Händen, zugedeckt mit einer weißen Serviette. Er geht einen Schritt zur Seite, um sie eintreten zu lassen, und betrachtet sie heimlich, fragt sich besorgt, wie sie auf den Anblick des Heftes in seiner Hand reagieren wird. »Rassul dschan , ich bin gekommen, um dich zu bitten, Yarmohamad zu verzeihen. Er ist in den letzten Tagen nicht so recht auf dem Damm. Er ist nervös. Er hat Angst … Du kennst ihn ja. Und außerdem hat er keine Arbeit mehr. Er macht sich ganz einfach Sorgen …« Sie streckt ihm das Tablett entgegen: »Hier, kischmisch-panir , hausgemachter Rohmilchkäse, wie du ihn magst, mit Rosinen.«
Verlegen nimmt Rassul ihr das Tablett ab und dankt ihr mit einer unbestimmten Geste, als wollte er sagen, sie solle sich nicht sorgen, es sei vorbei. Dann, um seine Dankbarkeit fürs Aufräumen zum Ausdruck zu bringen, macht er eine Verbeugung, während er mit der Hand – die das Heft hält – auf die Ecke zeigt, in der die Bücher fein säuberlich gestapelt sind. »Ich habe es so gemacht wie früher. Damals, als …«
Er hört ihr nicht mehr zu. Beruhigt, dass er weder Argwohn noch Sorge in ihrem Blick sieht, ist er wieder, wie zuvor, fasziniert von den vollen, glänzenden Lippen, ihren haselnussbraunen Mandelaugen. Und sie, die ihre Verführungsmacht kennt – und das schon lange –, spielt mit ihm, knabbert an einem Zipfel ihres Schleiers und verbirgt damit ihre Lippen. Um ihn noch ein bisschen mehr in Erregung zu versetzen. Rassul ist überzeugt, wenn Yarmohamad ihm böse ist, dann zum großen Teil wegen
Weitere Kostenlose Bücher