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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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sich über ihren Kochtopf, schaut hinein, als suchte sie darin nach Worten. Nach langem Zögern sagt sie: »Suphia ist bei nana Alia.« Ihre Stimme klingt hart, zu hart. »Nazigol hat sie geholt. Sie ist ganz allein. Ihre Mutter ist verschwunden, niemand weiß, wohin. Es gibt viel zu tun, und Suphia wird erst spät zurückkehren.« Dabei hat er sie gebeten, nicht mehr hinzugehen. Und sie ist doch wieder gegangen. Mit anderen Worten, seine Anweisungen gelten überhaupt nichts mehr. So sieht es aus. Er wendet sich ab, um zu gehen, aber Suphias Mutter hält ihn zurück, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Rassul …«, eine Pause, die nichts Gutes verheißt. »Ich muss … dir zwei, drei Dinge sagen …« Da haben wir’s. Nun kommt das, was Rassul schon lange befürchtet hat: »Aber ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Sie schnäuzt sich in einen Zipfel ihres Tuchs. »Nimm es mir nicht übel. Ich weiß, dass wir uns verstehen …« Ja, Rassul versteht dich ausgezeichnet. Er ist nun schon eine ganze Weile bereit zu hören, was du auf dem Herzen hast. Sag ihm ruhig alles: »Wie lange sollen wir noch auf dich warten? Vor allem jetzt, wo sich dein Leben geändert hat. Deine Mutter und deine Schwester brauchen dich, mehr als wir. Du musst zu ihnen zurückkehren.« Rassul hat den Eindruck, dass sich sein Körper entleert. Sämtliches Blut entweicht aus ihm, die Hoffnung, das Leben. Er ist nur noch ein Strohhalm, unnütz, dürr, winzig … gut, um weggeworfen, vom geringsten Lufthauch weggefegt zu werden. Er stützt sich an der Wand ab, um Suphias Mutter nicht vor die Füße zu fallen, deren Worte ihn niederschmettern: »Wir müssen jetzt an uns denken, wir können nicht ewig auf dich warten. Du hast nichts mehr. Keine Arbeit. Kein Geld. Bis wann? Lass uns die Sache selbst in die Hand nehmen, eine Lösung finden.« Aber er liebt Suphia. »Kehr zu deiner Mutter zurück, Rassul! Wir kommen schon zurecht. Mach dir keine Sorgen.« Aber er liebt Suphia.
    Ja, das weiß sie. Und darum verstummt sie, lässt ihre Worte ungesagt, drückt ihre Gedanken nur noch mit dem Blick aus, der voller Bedauern und Mitleid für Rassul ist. Er senkt den Kopf. Nachdem er eine ganze Weile betrübt dagestanden hat, verlässt er die Küche, den Flur. In einer Ecke des Hofs findet er Dawud, der im Schein einer Öllampe den verletzten Flügel einer Taube verarztet. Rassul holt das Geldbündel aus der Tasche und gibt es ihm. »Was ist das?« Der Preis für den Colt. Dawud nimmt das Geld überglücklich entgegen und überreicht ihm die Waffe. »Das ganze Geld ist für mich?« Ja. »Alles?« Alles. »Wie viele Tauben kann man damit kaufen?« Rassul überlässt ihn seinen Berechnungen und verschwindet auf den staubigen Straßen von Dehafghanan, wie ein Schatten in der Dämmerung, unsicher und leer.
    Ja, leer. Ohne jegliche Substanz.
    Nein, Rassul, du bist nicht leer. Du bist ganz einfach befreit. Befreit von jedem Zwang, von jeder Verantwortung. Befreit, weil Suphia dich nicht mehr braucht. Genauso wenig wie deine Mutter und deine Schwester.
    Ja, das ist Leere: Wenn niemand mich mehr braucht, wenn ich nichts mehr zu geben habe. Ob ich existiere oder nicht, hat keinerlei Auswirkungen.
    Genau. Ohne dich wird die Welt nicht leer sein, nur leer von dir. Das ist alles.
    Ich will Suphia nicht in diese Leere hineinziehen.
    Dann lass sie in Ruhe!
    Ich werde sie in Ruhe lassen. Aber vorher muss ich ihr noch sagen, dass nana Alia nicht mehr lebt, dass ich sie mit meinen eigenen Händen umgebracht habe.
    Sie wird es schon erfahren, früher oder später. Heute Abend ist sie bei Nazigol, die die »Gastfreundschaft« gewährt, die ihre Mutter zugesichert hat. Bestimmt sind Amer Salam und seine Gäste dort.
    Was wirst du tun?
    Rassul bleibt stehen.
    Ein Schluchzer ist in ihm, von dem er nicht weiß, wie er ihn loswerden soll. Er sucht in seiner Tasche nach einer Zigarette. Seine Hand stößt gegen die Waffe. Sie zittert. Sie schwitzt seine Tränen aus. Sie beweint seinen Tod.

EIN KÖRPER SACKT ZU Boden. Rassul öffnet die Augen. Durch den Rauchschleier hindurch erkennt er Jalal, kriecht zu ihm, schüttelt ihn. Nichts zu machen, er bleibt liegen, aus seinem Mund sickert ein Speichelfaden. »Er ist ein glücklicher Mann«, murmelt kaka Sarwar, die Augen geschlossen, den Körper zusammengekrümmt. »Er bewegt sich nicht mehr«, stellt ein junger Mann neben Rassul fest. Kaka Sarwar öffnet ein Auge, wirft einen Blick auf Jalal und fährt fort: »Er ist ein

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