Verflucht sei Dostojewski
zitterte. Ich schloss die Augen und hörte einen Schuss, dann die erschrockenen Schreie der Vögel, die vom Schilffeld aufflogen. Aus der Stirn des Tieres spritzte Blut. Seine schicksalsergebenen Augen öffneten sich, um sich kurz darauf sanft, wie erleichtert, zu schließen. Dann absolute Stille. Die Vögel und die Wölfe waren verstummt. Alles schien vor der schwarzen Leinwand der Nacht erstarrt.
Als sich der Zorn meines Vaters gelegt hatte und er wieder klar denken konnte, lud er hastig eine Kugel nach; unsere Sachen auf dem Rücken, setzte er sich in Bewegung und rief: »Rassul! Komm, rühr dich! Rassul?«
Diese seltsame Geschichte, die Rassul Nayestan getauft hat – Das Schilffeld –, geht ihm nicht aus dem Kopf. Still und andächtig lebt sie in ihm fort. Auch sein Vater hat sie immer wieder erzählt, egal wo, egal wann, egal wem. Und jedes Mal bat er Rassul, ihn an Einzelheiten zu erinnern, die er vergessen hatte. In Wahrheit wollte er ihn nur zum Zeugen nehmen, dass dieses unglaubliche Abenteuer wirklich stattgefunden hatte. Aber Rassul spielte nicht mit. Oft lief er weg, sobald sein Vater davon anfing. Nicht, dass er die Geschichte leid gewesen wäre. Nein, er wollte nur, dass sie ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Vater blieb. Warum? Er hatte keine Ahnung. Und er kennt den Grund noch immer nicht. Dabei erzählt er sie sich selbst oft von Anfang bis Ende. Und jedes Mal fügt er ein Detail hinzu oder lässt eins aus. Gelegentlich verweilt er lange bei einem bestimmten Augenblick oder einem Bild, das zu seinem inneren Befinden passt. Darum wollte er sie auch nie aufschreiben, sie nicht auf Papier festhalten. Würde er sie aufschreiben, würde die Geschichte unanfechtbar, ohne die kleinen Details, tot. Im Übrigen kann er gar nicht mehr unterscheiden, was sein Vater hinzugefügt und was er selbst eingeflochten hat, was wahr und was falsch ist, was zu seinen Erinnerungen und was zu seinen Träumen gehört … Unwichtig. Merkwürdig ist nur, dass er ausgerechnet in diesem Moment an den Blick des Esels denkt. Was hat sich hinter diesem stumpfsinnigen Blick verborgen?
Alles. Dieser verlorene, unschuldige, ungläubige Blick richtet sich an ihn: »Aber warum habe ich mich verirrt? Warum finde ich auf einmal den Weg nicht mehr? Wo geht es lang? Ist das nicht der Weg, den ich immer genommen habe? Was geht hier vor sich? Warum erkenne ich ihn nicht wieder? Warum kommt mir dieser Pfad unbekannt vor? Ist es wegen der Dunkelheit? Oder ist es vielleicht die Angst? Oder die Erschöpfung? Oder der Zweifel?« Und als die Fragen ohne Antwort blieben, verwandelten sie sich in Erstaunen. Zum Teufel mit den Gründen. Der Esel war einfach da, verloren. Und er wusste, dass er den Weg nie wiederfinden würde. Also blieb ihm nur noch, »Was tun« zu jammern, ohne Fragezeichen.
Was tun. Rassul richtet sich auf. Die Pistole rutscht ihm von der schweißnassen Brust. Sein Herz schlägt wie wild, als wollte es herausspringen und außerhalb des Körpers, neben der Waffe, weiterschlagen.
Zitternd greift die Hand nach der Pistole, führt sie an seine Nasenwurzel, genau zwischen die Augen. Sein Finger drückt auf den Abzug. Sie ist nicht geladen, er weiß es; er will nur üben, wissen, ob es leicht ist, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Ja, sehr leicht sogar. Man muss nur die Augen schließen.
Er schließt die Augen.
Nicht mehr denken. An nichts mehr denken. An niemanden. Nicht einmal an seinen Feind, seinen Hass, seine Niederlage.
Er denkt nicht mehr daran.
Sich auf die Pistole konzentrieren. Ihre Seele ist die Kugel, ihr Körper der Abzug. Der Rest ist nur eine Bewegung der Hand, simpel wie ein Spiel. Genau, so ist es, simpel wie ein Spiel. Ein Spiel ohne Wettstreit. Ohne Gegner. Man muss einfach nur an das Spiel glauben, an sein eigenes Spiel. Und nur noch an die Handbewegung denken. An nichts anderes. Nicht an die Wahrheit des Spiels und nicht an seine Nutzlosigkeit. Es geht einzig darum, es richtig auszuführen, die Regeln zu befolgen. Und nicht zu mogeln.
Jetzt muss eine Kugel eingelegt, die Pistole wieder zwischen die Augen gehalten werden.
Sie ist schwer, die Pistole.
Es ist seine Hand, die schwach wird.
Er hat Durst.
Man darf auch nicht mehr an Wasser denken. Muss sich sagen, dass es ein Spiel ist, und wenn es zu Ende ist, steht man auf und trinkt Wasser.
Und schließt die Augen.
Und schießt.
DU STIRBST ALSO?
Ja, ich sterbe. Ich sterbe mit einem Loch zwischen den Augen, aus dem das Blut läuft, über die
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