Verflucht sei Dostojewski
glücklicher Mann. Im Rausch ist er geboren, im Rausch wird er sterben.«
»Was machen wir mit ihm?«
»Nichts«, haucht Mostapha, abwesend, in eine Ecke der saqichana verkrochen, die Hände unter die Achseln geklemmt.
»Es ist sein Wille zu sterben. Jetzt, wo unser Leben von anderen abhängt, lass uns wenigstens das Recht zu sterben. Lass ihn in Ruhe, junger Mann, mach ihm nicht das Sterben schwer«,sagt kaka Sarwar und schließt die Augen wieder, während er leise vor sich hin trällert: »Von Kommen und Gehen, was bleibt bestehen / Wenn all unsere Hoffnungen einst verwehen? / Selbst die Weisen werden im Feuer sich verzehren / Und zu Asche verfallen, wenn sie einst gehen.«
Rassul kehrt zurück an seinen Platz, lehnt sich an die Wand und wartet, den Blick auf Jalal geheftet, darauf, noch einmal den Tod kommen zu sehen. Einen sanften, friedlichen Tod. Er wird Jalal weit wegbringen aus dieser Hölle. Er wird es ihm ersparen, an einer verirrten Kugel zu sterben oder an einem Beilhieb. Einen schmerzlosen Tod. Und es wird niemand anzuklagen, zu verurteilen, zu exekutieren sein. Kein Schuldiger zu finden. Es wird weder Verbrechen noch Strafe geben.
Er nimmt eine Zigarette und zündet sie an, dann steht er auf und verlässt die saqichana , um nach Hause zu gehen, in sein Zimmer, in dem es von Fliegen wimmelt. Er geht sofort ins Bett, zerdrückt seine Zigarettenkippe an der Wand und streckt sich aus. Irgendetwas in seiner Tasche stört ihn.
Es ist der Revolver. Er legt ihn sich auf die Brust. Was tun?, fragt er sich. Was tun?, wiederholt er ins Schweigen seiner Kehle hinein, dann versucht er zu schreien, in der Hoffnung, dass die Wörter auf seinen Lippen ertönen, im Zimmer, am Fuß des Berges, über der Stadt … Doch da ist kein Ton, keine Antwort.
Was tun, das muss ohne Fragezeichen gesprochen werden. Das ist keine Frage, sondern ein Gedanke. Nein, nicht mal ein Gedanke, ein Zustand. Ja, das ist es. Ein Zustand der Abgestumpftheit, ein Zustand, in dem eine Frage uns in Staunen versetzt, statt uns zu einer Antwort aufzufordern, in dem sie uns zuruft, aber nicht aufruft.
Was tun.
Diesen Zustand habe ich schon einmal erlebt, ich habe ihn gesehen, gespürt sogar, in den Augen eines Esels.
Es war Herbst. Und ich war elf.
Wie jedes Jahr um diese Zeit begleitete ich meinen Vater auf die Jagd in der Gegend von Dschalalabad, wo meine Großeltern einen großen qal’a besaßen – eine Art Festung aus Lehm. Das Land war noch nicht von den Sowjets überfallen worden, der Krieg hatte noch nicht begonnen, und mein Vater verstand sich noch gut mit seinen Schwiegereltern, die die Kommunisten verachteten.
Wie gewöhnlich nahmen wir einen Esel mit, der unsere Jagdutensilien trug und uns durch die Täler und die Wüste ohne jegliche Orientierungspunkte führte. Nach einer längeren Wegstrecke kamen wir an ein riesiges Schilffeld am Rande eines großen Sees. Ein idealer Ort, um Zugvögel zu jagen. Wir banden den Esel an einen toten Baum in der Nähe des Schilffelds, den einzigen Baum weit und breit.
Dann errichteten wir am Ufer einen Unterstand, um uns auf die Lauer zu legen und auf die Vögel zu warten. Es war noch früh. In der Zwischenzeit hielt mein Vater ein kleines Nickerchen.
Der Wind strich sanft durch das Schilfgras und brachte es zum Singen. Die Luft fühlte sich harmonisch, friedlich, einschläfernd an. Nach und nach döste ich ebenfalls ein. Ich sank langsam in einen tiefen Schlaf. Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte die Dämmerung das Schilf bereits in einen eigenartigen, düsteren und unheimlichen Dunst gehüllt.
Mein Vater beobachtete aufgeregt den Himmel, sagte, nun würden sie nicht mehr lange auf sich warten lassen, die Zugvögel. Mehrmals überprüfte er sein Gewehr.
Die Minuten verstrichen, die Nacht brach herein, und am Himmel kein Laut, kein Zeichen.
Stille.
Leere.
Plötzlich drang Eselsgeschrei zu uns herüber; erst nur schwach; dann immer lauter, erschrocken, erschreckend.
Mein Vater befahl mir nachzusehen, was los sei. Ich zögerte; ich hatte Angst. Er knurrte, ich solle das Tier zum Schweigen bringen, sonst würden sich die Vögel nicht niederlassen. Ich ging, und in meinen Adern stockte das Blut. Als ich am Rand des Schilffelds war, sah ich voller Entsetzen zwei Wölfe, die knurrend um den Esel kreisten, um sich gleich auf ihn zu stürzen. Der Esel saß in der Falle und konnte nichts tun als schreien.
In Panik lief ich zu meinem Vater, um ihn zu warnen. Das Gewehr in der Hand, rannte
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