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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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hättest, wäre ich nach Mazar gegangen und hätte dich mitgenommen …« Dann geh jetzt und lass Rassul in Ruhe. »Ich nehm dich mit.« Rassul ist am Ende seines Lateins. Los, Razmodin, bring Donia und ihre Mutter nach Kabul!
    Razmodin springt auf, ist Feuer und Flamme: »Wir holen sie her …«, doch Rassuls hoffnungsloser Blick dämpft sein Ungestüm. Er kommt wieder zu sich: »Nein, hier ist es zu gefährlich. Wir gehen alle nach Tadschikistan.« Nein, bedeutet Rassul. »Stimmt, das Gebiet haben sie auch unter Kontrolle«, erschöpft, »wohin also? Finde eine Lösung, verdammt!« Mach, was du willst, aber lass Rassul in Ruhe … In Ruhe!
    Hin- und hergerissen zwischen seiner Wut über Rassuls unverständliches Schweigen und seiner Angst vor der Bedrohung, die von Rostam ausgeht, steht Razmodin einen Augenblick reglos da. Dann knallt er plötzlich die Tür hinter sich zu. Seine wütenden Schritte poltern die Treppe hinunter, stampfen über den Hof, werden schließlich vom Staub der Dämmerung verschluckt.
    Rassul schließt erschöpft die Augen, aber ohne einzuschlafen.
    Die Nacht bricht herein, finstere Nacht.
    Sie durchdringt das Zimmer.
    Und als sich die Gebetsrufe im Chor erheben, der Stadt den Schlaf rauben, da erst öffnet Rassul schwerfällig die Augen. Sein Kopf dreht sich. Er setzt sich auf, lehnt sich an die Wand, zieht die Beine an die Brust.
    Er zittert. Er zittert vor Wut, vor Angst, vor Feigheit … vor allem.
    Seine Brust schnürt sich zusammen.
    Seine Kehle schwillt an und quillt über.
    Er weint.

ER SCHLÄFT.
    Plötzlich reißt ihn der entsetzliche Lärm einer Explosion aus dem Schlaf. Schweißgebadet setzt er sich auf und schaut zum Fenster. Dahinter noch immer Nacht, noch immer Schwärze. Der dunkle Rauch hindert den Mond, sich in die Träume der Häuser zu schleichen.
    Rassul zündet die Kerze an, die Rona in Reichweite der Matratze hingestellt hat. Er schleppt sich zum Tonkrug. Kein einziger Tropfen Wasser mehr.
    Er kehrt ins Bett zurück, sein Blick bleibt an dem Geldbündel hängen, das Rostam Razmodin gegeben hat. Eine Fliege hat es sich darauf bequem gemacht. Es ist dasselbe Bündel, das nana Alia mit ihrer steifen, fleischigen Hand umklammert hat. Aber das kommt ihm nur so vor. Alle Geldbündel ähneln sich.
    Nimm es!
    Nach langem Zögern packt er es mit einer blitzschnellen Bewegung, als wollte er gleichzeitig die Fliege schnappen. Sie entwischt und gesellt sich zu ihrer Kolonie auf der weißen Serviette, die über den Rohmilchkäse mit den Rosinen gebreitet ist.
    Er betrachtet das Geld eingehend, dann wirft er es weit von sich. Aus Angst oder Abscheu.
    Er raucht eine Zigarette.
    Er überlegt.
    Er überlegt, dass dieses Geld vielleicht nicht ganz so schmutzig ist wie das der nana Alia. Und nicht einmal gefährlich. Warum dann dieser Ekel? »Aus Hochmut!«, würde Razmodin sagen. »Du bist vom Hochmut zerfressen, Rassul. Von einem Hochmut, der auf nichts gründet, der völlig absurd ist.«
    Ja, ich stehe dazu, dieser Hochmut ist durch nichts begründet. Damit die ganze Welt es weiß: Mir ist Hochmut lieber als Stolz. Stolz zu sein heißt, stolz auf etwas zu sein, also von etwas abhängig zu sein. Während Hochmut tiefgründig ist, innerlich, persönlich, unabhängig, ohne sozialen Bezug. Stolz verschafft Ehre, Hochmut hingegen Würde.
    Wieder Worte, Worte, die gut klingen. Trotz allem, was du erlebt hast und nach wie vor erlebst, schaffst du es noch immer nicht, dich davon zu überzeugen, dass du dieses Geld brauchst. Beinahe fünfzigtausend Afghani. Du kannst deine Mutter retten, deine Schwester und deine Verlobte dazu. Deine Familie krepieren zu lassen, verletzt das etwa nicht deinen Hochmut, deine Würde?
    Entmutigt zieht er an seiner Zigarette, und als er den Rauch ausstößt, erlischt die Kerze. Er legt sich hin und wartet in der Dunkelheit. Er wartet, dass es Tag wird, um zu seinem Cousin zu gehen und ihm das Geld zurückzugeben.
    Nein, ich werde meine Familie nicht mit diesem Geld retten.
    Also gut. Aber womit dann?
    Er dreht sich, er windet sich; und mit seinen Nägeln kratzt er die Farbe ab, die von der Wand blättert. Dann leckt er, wie als Kind, die Farbreste von seinen Fingerspitzen; sie schmecken noch genauso widerlich. Er leckt sie ab, nur um zu erbrechen und nicht zu schlafen.
    Er erbricht nicht.
    Er schläft wieder ein.
    Bei Tagesanbruch trifft er am Hotel Metropol ein. Das Viertel ist eingekreist, gesichert durch zwei Panzerwagen, ein paar bewaffnete Jeeps und

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