Verflucht sei Dostojewski
Dein Sohn wird zurückkehren. Also, warum bist du noch hier? Geh nach Hause.«
Die Frau rührt sich nicht.
»Der Weizen macht sie fett. Eine dicke Taube ist schließlich mehr wert als eine magere. Weißt du, warum?«, fragt er Rassul; dann, nach einer Pause, weniger, um auf eine Antwort zu warten, als um hervorzuheben, was er sagen will: »Nein, du weißt es nicht …« Er mustert Rassul. »Bist du aus Kabul?« Ja. »Du bist nicht von hier, sonst hättest du mich verstanden.« Er nimmt noch eine Handvoll Weizen aus der Tasche und streckt den Arm aus, damit die Tauben aus seiner Hand fressen. »Kommt, kommt; kommt her zu mir; kommt und werdet fett«, und fragt Rassul: »Kommst du oft in diesen ziyarat ?« Nein. »Du hast recht. Ich komme jeden Tag her. Aber nicht, um zu beten oder einen Wunsch zu äußern. Das liegt mir fern. Ich suche Allah nicht in den Gräbern! Er ist hier«, er klopft sich auf die Brust, »in meinem Herzen!« Er nähert sich Rassul, um gehört zu werden: »Du weißt doch, die Kommunisten haben sich zehn Jahre lang ins Zeug gelegt, damit sich dieses Volk von Allah abwendet; es ist ihnen nicht gelungen. Die Moslems hingegen haben es in einem Jahr geschafft!«, und lacht. Ein schelmisches, stilles Lachen. »Siehst du, diese ganzen Bärtigen, die den lieben langen Tag beten und am Grab von Schah-e Do Schamschera Wali jammern und wehklagen, am Abend machen sie dasselbe, was die Gottlosen mit diesem Heiligen getan haben. Kennst du die Geschichte dieses Heiligen?« Wieder eine Pause, wieder, um dem Folgenden Nachdruck zu verleihen: »Nein, du kennst sie nicht. Ich werde sie dir erzählen: Er war mit einem Onkel des Propheten verwandt. Es ist sein heiliges Grab. Leys Ben Gheys, der König mit den zwei Schwertern! Er ist hier als Märtyrer gestorben. Er ist gekommen, um unser Land zum Islam zu bekehren, und wurde getötet. Als er gegen die Ungläubigen kämpfte, haben sie ihm den Kopf abgeschlagen; dieser Heilige aber hat, ein Schwert in jeder Hand, weitergekämpft.« Er hält inne, um sich am Erfolg seines Heldenepos in Rassuls Blick zu weiden. Verdutzt über dessen Ungerührtheit, rückt er näher, senkt die Stimme, als wollte er ihm ein Geheimnis verraten, das seine Wirkung nicht verfehlen wird: »Dieselben, die heute tagsüber beten, organisieren abends diese Feiern, die sie Totentanz nennen; weißt du, was das ist, ein Totentanz?«, er hält wieder inne, schaut Rassul an und legt nach: »Nein, du weißt es nicht. Ich werde es dir sagen: Man schneidet jemandem den Kopf ab und bespritzt die Wunde mit heißem Öl. Der arme kopflose Körper bewegt sich, hopst herum. Das nennt man Totentanz. Hast du nie davon gehört? Nein, hast du nicht!« Doch, Alter, Rassul hat nicht nur diese Geschichte gehört, er hat noch ganz andere, noch schlimmere Geschichten gehört.
Der bedrückte Blick des Mannes verliert sich in den Weizenkörnern in seiner zitternden Hand. Von den blutleeren Lippen sprudeln die Worte: »Weißt du … warum sie das tun?« Nein, bedeutet Rassul und blickt den Mann fragend und ironisch an, als wollte er ihm zuvorkommen: »Aber du wirst es mir sagen.« Der Mann sucht nach Worten, dann fährt er fort: »Fürchten sie Allah nicht?« Doch. Und genau deshalb tun sie es. »Wärst du fähig, eine solche Abscheulichkeit zu begehen?« Ja. Rassuls Nicken überrascht den Mann. »Wärst du fähig dazu? Fürchtest du denn Allah nicht?« Nein.
Die Hand des Alten fuchtelt herum. Die Weizenkörner fallen zu Boden. » Lahaulobillah … Du fürchtest Allah nicht!«, und spricht sein Glaubensbekenntnis gleich noch einmal. »Bist du Moslem?« Ja.
Der Mann vertieft sich in seine Gedanken, um ein paar Sekunden später, noch verzweifelter, wieder daraus aufzutauchen: »In der Tat, nach all dem, was ich dir erzählt habe, wen muss man da fürchten? Den Menschen oder Gott?« Dann verstummt er.
Rassul, der sich wundert, wie viel Zeit Suphia für ihre Gebete braucht, überlässt den Alten seinen Zweifeln und steht auf, um langsam auf die Grabstätte zuzugehen. Er wirft einen Blick durch das Tor. Ein paar Frauen klammern sich klagend an die Gitterstäbe, die das Grab umgeben. Andere sitzen und beten still.
Suphia ist nicht da. Er kehrt zu dem Aufseher zurück, sucht nach ihren Schuhen, kann sie aber nicht finden.
Er schaut noch einmal hinein. Keine Spur von ihr. Draußen auch nicht.
Was ist passiert? Dieses Herz, das sich ihm erneut geöffnet hat, warum hat es sich so schnell wieder geschlossen? Hat sie ihn
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