Verflucht sei Dostojewski
und die Mattigkeit des Kreises stört. Pst, ertönt es von überall her. Dann wieder Stille, feierliche Stille, im Angesicht von kaka Sarwar. Alle warten, dass er das Schillum weitergibt und seine durch Rassuls Ankunft unterbrochene Erzählung fortsetzt. »Soll ich noch mal von vorne anfangen?«
»Nein, fahr fort!«, erheben sich die Stimmen im Chor.
»Aber der junge Mann hat den Anfang nicht gehört!«
»Den erzählen wir ihm nachher.«
»Einverstanden«, und er gibt das Schillum an die anderen weiter.
»Wo war ich? Ich hab den Faden verloren …«
»Du befandest dich in einem Dorf.«
»Ach ja. Und in was für einem Dorf! Mit Häusern aus geschnitztem Holz, ohne Fenster, ohne Türen oder Mauern. Ich hörte Stimmen, sah aber niemanden. Die Häuser waren leer. Oder vielmehr, die Dunkelheit hinderte mich daran, irgendjemanden oder irgendetwas zu erkennen. Da waren nur Stimmen, nichts als Stimmen, orchestrale, harmonische, friedliche Stimmen. Sie kamen aus einer halb eingefallenen Höhle, die sich am Dorfeingang befand, am Fuß eines trockenen, steilen, steinigen Hügels. Sämtliche Dorfbewohner waren da. Tanzend und in Trance. Männer und Frauen. Junge, Alte, Kinder. Die Männer hatten Weinblätter auf dem Kopf, die Frauen schuschut , geschmückt mit Kaurimuscheln und roten Perlen. Es wurden Getränke an alle verteilt.«
»Waren das keine kafir ?«
»Keine Ahnung. Sie tranken alle; sie sangen alle. Sie ließen sich durch meine Anwesenheit nicht aus der Ruhe bringen. Als wäre ich gar nicht da. Man hat mir sogar zu trinken gegeben, ohne mich irgendwas zu fragen; erst ein flammend gelbes Getränk, das sie ›Steinsäge‹ nannten, darauf ein feuerrotes, ›Steinfeile‹. Das eine war sauer, das andere herb.« Wieder hält er inne, um zu rauchen. »Was hab ich getrunken an jenem Abend! Und niemanden interessierte, warum ich dort war. Als ich ihren Anführer ausfindig gemacht hatte, der eine Frau war, ging ich zu ihr. Ich sagte guten Tag, sie grüßte mich und fragte: ›Hast du dich verirrt, junger Mann?‹ Schüchtern bejahte ich. Mit einem freundlichen Lächeln hieß sie mich im Tal der verlorenen Wörter willkommen. Sie fragte mich, wohin ich ginge, woher ich käme. Als ich ihr alles erzählt hatte, nickte sie, bot mir ein letztes Glas ›Steinfeile‹ an und winkte dann einen Alten herbei, der mich zum nächsten Dorf führen sollte. Der Alte drückte mir eine Sturmlampe in die Hand, und wir machten uns auf den Weg. Er ging schnell und sicheren Schrittes. Ich beeilte mich, um den Weg vor ihm zu beleuchten, doch er forderte mich auf, die Lampe für mich selbst zu behalten, er brauche sie nicht. Keuchend fragte ich ihn, wie es komme, dass sie eine Frau als Oberhaupt hätten. Während wir weitergingen, erzählte er mir eine unglaubliche Geschichte, die ich euch morgen erzählen werde.«
»Ach nein!«, protestieren alle. Kaka Sarwar sagt zu Hakim: »Aber ich habe Hunger.«
»Wir werden dir Kebab und Tee kaufen. Wer hat Geld?«
Niemand rührt sich, außer Rassul, der einen großen Schein aus der Tasche zieht und Hakim hinhält.
»Dir geht das Geld wohl nie aus!«, sagt kaka Sarwar zu ihm. »Dann erzähl ich die Fortsetzung dir. Aber zuerst das Schillum!« Man reicht es ihm; er raucht und gibt es an Rassul weiter. »Diese Frau, das Dorfoberhaupt, war Nachkommin eines großen Weisen unter Weisen, der vor uralter Zeit in einem fernen Königreich lebte. Er war blind, aber fähig, Schriften zu lesen, indem er die Buchstaben mit der Fingerspitze berührte. Das Unglück brach an dem Tag über ihn herein, als er merkte, dass sich die Wörter, die er las, langsam im Buch auslöschten.« Kaka Sarwar hält inne und fixiert die gebannten Gesichter. Nachdem er tief Luft geholt hat, greift er wieder zum Schillum. Der Rauch verschleiert seine Stimme: »Dichter, Weise, Richter … sie gerieten allesamt in Panik. Alle versteckten ihre Schriften, aus Angst, der blinde Weise könnte sie lesen. Sie zwangen den König, ihn aus dem Reich zu verbannen. So musste der Weise wohl oder übel mit seiner ganzen Familie in die Verbannung gehen. Und er ließ sich in diesem Tal nieder, von dem ich euch erzählt habe. Sie errichteten ein Dorf, in dem jeder alles auswendig konnte. Sie hatten kein einziges Buch, keine Schrift. Weil sie alles wussten. Bücher sind etwas für Dummköpfe!« Er prustet los, raucht, hustet, dann fährt er fort: »Sie erfanden eine andere Sprache, die man unmöglich vergessen konnte. Von da an kamen die Erzähler,
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