Verflucht sei Dostojewski
Schatten des Wunschbaums eingenickt. Eine Hand unter dem Kinn, die andere auf der Brust. Er sieht so unschuldig aus wie ein schlafendes Kind. Sein grau melierter Bart zittert hin und wieder wie der einer Ziege vor dem Opfergang. Rassul geht auf ihn zu. Er zieht den Revolver aus der Tasche, tritt noch näher und zielt auf den Wächter. Sein Finger krampft sich um den Abzug. Seine Hand zittert. Er zögert.
Jemanden im Schlaf zu töten zeugt von absoluter Feigheit. Außerdem macht es den Tod für ihn sehr einfach. Ohne jedes Leiden. Er darf nicht in Unwissenheit seiner Tat, in der Unschuld des Schlafs sterben.
Er soll aufwachen, er soll wissen, warum ich ihn töte! Und darunter leiden!
Er wird leiden, sicher, für ein paar Augenblicke; doch er wird den Grund für seinen Tod mit ins Grab nehmen. Und niemand wird wissen, dass dieser Aufseher umgebracht worden ist, weil er Suphia aus dem Mausoleum gejagt hat, dass er das Haus Allahs einem »öffentlichen Mädchen« verboten hat, das hier sein Gebet verrichten, für seinen Verlobten um Vergebung bitten wollte … Du wirst also, Rassul, noch einen Mord ohne jede Konsequenz verüben. Noch einen Fehlschlag.
Die Sonne schlängelt sich durch die Äste und Blätter des Wunschbaums, streut Kleckse auf den Körper des Wächters, auf die Füße, die Beine, die Haare Rassuls und auf den Colt, der in seinen Händen zittert … Schweißgebadet, von Zweifeln geplagt, kauert sich Rassul vor dem Aufseher nieder, verharrt ein paar Augenblicke völlig reglos, dann klaubt er eine Zigarette aus der Tasche. Keines der Geräusche, die seine Bewegungen verursachen, stört den Schlaf des Alten. Ist er schwerhörig? Oder ist Rassul inexistent?
Er steht auf und tritt zurück, doch ein dumpfes Geräusch hinter ihm lässt ihn erstarren. Er schnellt herum. Es ist eine Katze.
Eine Katze im Mausoleum? Eine eigenartige Erscheinung für Rassul, der zuschaut, wie sie auf ihn zukommt, mit ihrem aufgerichteten Schwanz seinen Fuß streift und lautlos in den Schatten des Wächters gleitet, der langsam aufwacht. Rassul fährt zusammen. Er wirft seine Zigarette weg und zielt wieder auf ihn, mit flatternden Lidern. Der verschlafene Blick des Mannes drückt nicht den leisesten Schrecken aus. Er bewegt sich nicht einmal. Vielleicht glaubt er zu träumen. Rassul nähert sich, befiehlt ihm aufzustehen. Der Alte jedoch schiebt träge die Hand unter den Teppich, der die Bank bedeckt, holt eine Schale voller Geld hervor und streckt sie ihm entgegen.
Der Mann hat nichts begriffen. Ich bin kein Dieb. Ich bin hier, um ihn zu töten.
Er geht auf ihn zu, bewegt die Lippen über stummen Worten: »Und weißt du, warum ich dich töte?« Nein, Rassul, er weiß es nicht, und er wird es nie wissen.
Rassuls Hand zittert vor Wut.
Der Wächter reagiert noch immer nicht. Er bleibt ungerührt sitzen. Er stellt die Schale an ihren Platz zurück, lächelt, schließt wieder die Augen und wartet auf den Schuss. Rassul stößt ihn mit dem Lauf seiner Waffe an. Wieder öffnet der Mann langsam die Augen. Unerschütterlich wie zuvor, obwohl die Pistole jetzt seine Schläfe berührt. Sein Blick, dem Blick des Esels von Nayestan gleich, sagt zu Rassul: »Worauf wartest du? Schieß! Wenn du es nicht tust, wird es eines Tages eine Granate sein, die mich tötet. Lieber sterbe ich von deinen Händen, weil ich die Reinheit und den Ruhm dieses heiligen Ortes beschützt habe. So werde ich als schahid sterben.«
Eine Frau im himmelblauen Tschaderi betritt den Hof. Als sie Rassul mit der Pistole an der Schläfe des Aufsehers erblickt, weicht sie zurück und flieht.
Er wagt noch immer nicht zu schießen.
Nein, ich will nicht, dass dieser Mann als Märtyrer endet.
Er wirft die Waffe weg.
Und geht.
» GEH WEG! HIER GIBT’S nichts mehr«, schimpft eine tiefe Stimme. Aber Rassul lässt nicht locker und schlägt gegen die Tür der saqichana , die sich ängstlich einen Spalt öffnet. »Bist du es, Rassul? Sag das doch gleich!«, ruft Hakim aus. »Welcher Rassul ist es, der Heilige oder der Haschischin?«, fragt wie gewöhnlich kaka Sarwar, dessen Stimme zusammen mit dem Geruch und dem Rauch von Haschisch entweicht.
Rassul tritt ein und findet einen Platz im Kreis der sitzenden Männer, immer derselben, die alle den Blick in feierlicher Stille auf den Bart von kaka Sarwar geheftet haben, der gierig raucht. Rassul hält nach Jalal Ausschau. Er ist nicht mehr da, um zu fragen, ob der Krieg begonnen hat. Es ist Mostapha, der kaka Sarwar ausfragt
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