Verflucht sei Dostojewski
helfen, das Geheimnis zu lüften.
Es ist ein Geheimnis für dich, nicht für sie. Für sie hat dieser Mord keine Bedeutung.
Nachdenklich und besorgt geht sie zu ihm. »Rassul, sag mir etwas, sag ein Wort! Ich flehe dich an.« Was will sie hören? Es gibt nichts mehr zu sagen. »Hast du sie wirklich umgebracht?« Ja. »Und hast du sie wirklich für mich umgebracht?«
Er kauert sich auf die Matratze und verbirgt das Gesicht zwischen den Knien. Suphia beugt sich über ihn und streicht ihm über die Haare. »Oh, Rassul, so sehr liebst du mich?«
Ja, er liebt dich.
Sie schlingt beide Arme um seinen Kopf. Sie hat Lust zu weinen.
Kann sie mit einem Mörder leben?
Wie soll sie das wissen? Sie sagt nichts, jetzt sagt sie auch nichts mehr.
Doch, mit ihrem Schweigen sagt sie viel. Sie sagt, dass sie in der letzten Zeit bei nana Alia nur noch Diebe, Verbrecher, Mörder getroffen hat, neben denen Rassul eine unschuldige kleine Ameise ist. Ein Nichts.
Ein Nichts, wiederholt er für sich und schmiegt sich enger in Suphias Arme. Und wartet.
Er wartet, dass Suphia ihm befiehlt: »Geh, augenblicklich, stell dich auf eine Kreuzung, verneige dich vor allen Menschen, küsse die Erde, weil du dich auch an ihr versündigt hast, und sage laut vor der ganzen Welt: ›Ich bin ein Mörder!‹«
Es wäre gut, dies zu hören. Aber Rassul, vergiss nicht, dass sie nicht Sonja ist, die Geliebte Raskolnikows. Suphia kommt aus einer anderen Welt. Sie weiß, wenn du so etwas hier tätest, in dieser Stadt, würde man dich für verrückt halten.
»Los, komm!«, sagt sie, indem sie sich von Rassul löst, entschlossen ihren Tschaderi packt und ihn überstreift. »Wir gehen zum Schah-e-Do-Schamschera-Wali-Mausoleum.« Aber … warum denn? »Los, wir beide, um zu beten. Finde zu deinem Glauben an Allah zurück. Tu toubah ! Sag ihm, dass du in seinem Namen getötet hast. Er wird dir verzeihen. Es gibt so viele, die in seinem Namen getötet haben, du bist nur einer von ihnen.«
Aber ich habe nicht in Allahs Namen getötet. Ich habe es nicht nötig, dass Allah mir vergibt.
Was willst du dann?
Dass sie zu mir zurückkehrt!
Dann geh mit ihr, folge ihr!
ER FOLGT IHR.
In ihren himmelblauen Tschaderi gehüllt, geht sie zwei Schritte vor ihm her. Sie überqueren die große Straße, die zum Schah-e-Do-Schamschera-Wali-Mausoleum am Ufer des Kabuls führt. Die Stadt atmet noch immer die schweflige Luft des Krieges. Sie keucht.
Inmitten von Pilgern betreten sie den Innenhof des Mausoleums. Vor dem Eingang zum Grab zieht Suphia ihre Schuhe aus und stellt sie unter den Augen eines sonnengebräunten Mannes, der Wache hält, neben die anderen. Rassul bleibt draußen. Er sucht Schatten unter einem Wunschbaum, dessen Äste mit Hunderten bunter Stofffetzen geschmückt sind. Eine alte Frau reckt sich mühsam in die Höhe, um einen grünen Streifen aufzuhängen. Zu ihren Füßen sitzt ein alter Mann und schaut den Tauben zu, die, ohne jede Lust, sie aufzupicken, zwischen Körnern herumspazieren.
Als es ihr gelungen ist, ihren Stofffetzen festzubinden, setzt sich die alte Frau triumphierend neben den Alten. »Mein Sohn wird zurückkehren, das ist sicher!« Der Alte hört nicht zu, er ist mit den Tauben beschäftigt. »Gib ihnen keinen Weizen!«, sagt die Alte vorwurfsvoll.
»Sie fressen nur Weizen. Die Leute begreifen das nicht und bringen ihnen Hirse. Schau!«, ruft der Alte und wirft eine Handvoll Weizen zwischen die Tauben, die sich sofort darauf stürzen. »Siehst du?«
»Das ist eine Sünde!«
»Warum eine Sünde?«
»Weizen zu füttern ist eine Sünde.«
»Woher hast du das?«
»Aus dem Koran.«
»Tatsächlich?«
»Ja, wegen des Weizens sind Hazrate Adam und Bibi Hawa aus dem Paradies verjagt worden.«
»Die Verse, die davon sprechen, musst du mir zeigen.«
»Ich hab es dir gesagt, es ist eine Sünde.«
»Meine Sünde oder ihre Sünde?«
»Deine Sünde, du bist es, der ihnen Weizen gibt.«
»Das ist mir egal. Sie brauchen ihn ja nicht zu fressen. Sie haben auch ihren freien Willen.« Prustend wendet er sich an Rassul: »Man scheißt auf die Sünde, wenn man Hunger hat. Ist es nicht so?« Er beugt sich zu ihm: »Unter uns gesagt, wenn sie keinen Hunger gehabt hätten, hätten dann Hazrate Adam und Bibi Hawa von der verbotenen Frucht gegessen? Nein.«
»Sag das nicht! Es ist eine Sünde, versündige dich nicht …«, insistiert die Alte.
»Warum bleibst du hier und teilst die Sünde mit mir? Du wolltest dein Gelübde tun, du hast es getan.
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