Verflucht sei Dostojewski
nicht umbringt?
Jetzt geht das schon wieder los! Nein, Rassul, er hatte anderes im Sinn. Dein Allah duldet den Suizid nur zum Zeugnis seiner Existenz und seiner Größe. Abgesehen davon, macht ihm jede Selbsttötung den Namen Al-Mumit streitig, Herr über Leben und Tod.
Die Pistole rutscht ihm aus den Händen.
Es ist also aus. Er wird sich nicht umbringen, er kann nicht. Der Selbstmord braucht nur eines: den Akt und nichts anderes. Keine Gedanken, keine Worte, keine Gewissensbisse, kein Bedauern, keine Hoffnung, keine Hoffnungslosigkeit …
Die Morgendämmerung, kühner als Rassul, fällt über den Himmel her und pflückt einen Stern nach dem anderen.
Und der Schlaf, mächtiger als die Morgendämmerung, fällt über Rassuls geschundenen Körper her.
EIN RASCHELN, SANFT UND anmutig, wogt durchs Zimmer, ganz nah bei ihm. Vor seinen halboffenen Lidern zeichnet sich ein verschwommenes Bild ab: das ätherische Gesicht einer jungen Frau mit runden Augen. Sie haucht: »Rassul?« Es ist ein schöner Traum. »Rassul!«, die Stimme klingt ängstlich, wird lauter, zwingt Rassul, die Augen ganz zu öffnen. »Geht’s dir gut?«
Suphia? Wie lange ist sie schon hier? Wie spät ist es? Benommen starrt Rassul auf seinen russischen Wecker, der nicht mehr funktioniert – schon lange nicht mehr, er schaut nur aus Gewohnheit darauf, aus »chronischer Absurdität«, wie er es nennt.
Er setzt sich auf und schaut zum Fenster. Der Himmel ist noch immer rauchig, voller Asche. Die Sonne dringt nicht mehr hindurch. Sie versucht es schon gar nicht mehr. Sie wartet darauf, dass sich die Erde dreht.
»Was ist los?«, fragt Suphia und betrachtet ihn voller Sorge. Rassuls Hand streckt sich nach der Pistole aus, hebt sie hoch. »Seit wann hast du eine Waffe?«, fragt Suphia misstrauisch. Er legt die Pistole auf den Boden zurück, nimmt sich eine Zigarette, zündet sie an; um seine Stummheit zu verbergen, tut er, als hätte er keine Lust zu antworten, obwohl das erbärmlich ist. »Meine Mutter hat mir das mit deinem Vater gesagt, Gott hab ihn selig. Aber warum hast du mir nichts gesagt? Warum bist du nicht zu seiner Beerdigung gegangen?« Sie ergreift Rassuls Hände, »jetzt verstehe ich deine Traurigkeit, dein Schweigen …« Nein, Suphia, du verstehst gar nichts. Du stellst Fragen, obwohl du weißt, dass der Tod seines Vaters überhaupt keine Bedeutung für ihn hat. Sie hatten schon lange nichts mehr miteinander zu tun. Vater und Sohn. Er hat es dir erzählt. Nur um seine Mutter und seine Schwester macht er sich Sorgen. Er muss ihnen helfen. Aber darum geht es auch nicht. Rassul denkt nur an eines: Wo warst du heute Nacht? Erforsche seinen Blick. Hör auf sein Schweigen.
»Rassul, ich habe meine Arbeit bei nana Alia wiederaufgenommen.« Das weiß er bereits. »Ich schwöre dir, ich liebe dich, aber ich bin gezwungen zu arbeiten. Wenn ich nicht für uns arbeiten würde, wer würde es dann tun? Meine Mutter? Mein Bruder? Du kennst unser Leben. Ich schwöre dir, als Nazigol gestern Abend gekommen ist, hat meine Mutter sich ihr vor die Füße geworfen, damit sie sie an meiner Stelle mitnimmt. Sie wollte nicht. Sie wollen sie nicht.«
Sie wollen sie nicht .
Wer sind diese sie ?
Suphia unterdrückt einen Seufzer und fährt fort: »Als du mir letztes Mal gesagt hast, ich soll da nicht arbeiten, weil die Leute anfangen würden zu reden, bin ich nicht hingegangen. Und was ist passiert? Eine Woche Hunger, eine Woche Not. Und wer hat sich in dieser Woche um uns gekümmert?« Sie bricht in Tränen aus. »Von dir können wir auch nichts erwarten. Jetzt hast du auch noch die Verantwortung für deine Mutter und deine Schwester. Du brauchst selbst Hilfe. Versteh mich doch. Ich weiß, dass es schwierig ist für dich, das zu akzeptieren, aber sag mir, Rassul, habe ich eine andere Wahl?« Nein, sie hat keine andere Wahl. Und du, Rassul, du hast ihr, wie sie gesagt hat, nichts mehr zu geben. Du bist leer. Du bist nichts. Unfähig, dich umzubringen, unfähig, dich selbst zu retten oder deine Schwester und deine Mutter zu beschützen; also kannst du für Suphia und ihre Familie noch weniger tun. Du schämst dich nicht für deine Unfähigkeit, für deine Tatenlosigkeit, fühlst dich aber entehrt, gedemütigt durch das, was Suphia tut. Und dabei ist sie unschuldiger, reiner, würdiger als du. Wirf dich ihr zu Füßen und sag mit lauter Stimme: »Nicht vor dir knie ich, vor allem menschlichen Leid knie ich.« Los!
Er zittert.
Siehst du, du bist nicht
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