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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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brüllt der Wärter. Der Gerichtsschreiber sagt zu dem Mann: »Im Namen Allahs, schrei nicht so!«, und betritt die Zelle, um Rassul das Tablett zu geben. »Wir haben dir gesagt, du sollst bei uns bleiben und mit uns essen, aber du wolltest nicht. Du hattest es offenbar eilig hierherzukommen … Bist du nun zufrieden?«
    »Nein.«
    »Aber das ist es doch, was du wolltest, oder nicht?«
    »Doch, aber nicht auf diese Weise.«
    »Wie dann? Dachtest du, man würde dich in einem blumengeschmückten Wagen mit Orchesterbegleitung ins Hotel Intercontinental bringen?!«
    »Ich meine nicht den Empfang, sondern das Urteil. Dieses Urteil ohne Prozess. Ich will nicht aus dieser Welt gehen, ohne ein Wort zu sagen, ohne das letzte Wort gehabt zu haben.«
    »Für wen hältst du dich denn? Für den Propheten? Weil dein Name Heiliger Gesandter bedeutet?« Der Gerichtsschreiber stellt die Lampe auf den Boden. »Setz dich und iss etwas!«
    »Wo ist Kommandeur Parwaiz?«
    »Wer ist das?«
    »Der Sicherheitsbeauftragte der Stadt, er hat sein Büro im Informations- und Kulturministerium.«
    »Und?«
    »Ich will ihn sehen.«
    »Es ist bereits dunkel. Heute Abend wurde eine Ausgangssperre verhängt. Draußen wird gekämpft. Nicht einmal die Fliegen wagen sich hinaus. Ich bleibe ein wenig bei dir«, und an den Wärter gewandt: »Wir möchten ein paar Minuten allein sein. Kannst du ihm die Ketten abnehmen? Ich schwöre dir, er wird nicht fliehen. Mach dir keine Sorgen. Er ist freiwillig gekommen.«
    »Und aus dem Staub machen wird er sich wohl auch freiwillig!«
    »Ich bürge für ihn. Du kennst mich. Er ist auch ein Moslem. Er hat einen Fehler gemacht, lass ihn sein Herz ausschütten.«
    Der Wärter überlegt, dann gibt er nach und bettelt um Tabak. Rassul reicht ihm sein Päckchen. »Ach du Scheiße, der raucht Marlboro!« Er nimmt zwei Zigaretten, gibt das Päckchen zurück und geht. Der Gerichtsschreiber setzt sich. »Los, iss was«, und schiebt Rassul das Tablett hin; der hat keinen Hunger oder keine Lust zu essen.
    »Iss! Mit dem Essen kommt der Appetit. Nähr dich ein wenig, damit dein Gehirn durchblutet wird, dann verstehst du vielleicht, was man dir sagt! Warum treibst du denn Scherze mit diesen Leuten?«
    »Ich treibe keine Scherze. Ich will verurteilt werden, weil ich ein Mörder bin, und nicht, weil ich der Sohn eines Kommunisten bin.«
    »Entweder du bist naiv, oder du hast nie in diesem Land gelebt, oder du weißt nichts über den Islam und sein fiqh . Du weißt, dass das Verbrechen, jemanden zu töten, der Scharia zufolge in den Bereich der qisas fällt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das ist alles. Es ist ein Urteil, das zu den menschlichen Rechten gehört. Die Entscheidung liegt bei der Familie des Opfers. Du als Kommunist hingegen bist ein fitna , ein Abtrünniger. Bei dir kommen die hudud -Gesetze, die Grenzstrafen, zur Anwendung, die sich vom göttlichen Recht ableiten. Verstehst du das? Ich hoffe, das stellt dich nicht vor ein Rätsel.«
    »Ich verstehe dich sehr gut. Aber zunächst einmal war mein Vater Kommunist, nicht ich! Und …«
    »Gar nichts verstehst du! Seit wann wird in diesem Land jemand als Individuum verurteilt? Das war noch nie so! Du bist nicht, was du bist. Du bist nur, was deine Eltern sind, dein Stamm. Das ist wohl zu hoch für dich. Los, iss was!«
    »Nicht einmal du nimmst mich ernst.«
    »Doch, ich nehme dich ernst, aber ich verstehe dich nicht, weil du selbst nicht weißt, was dich innerlich zerfrisst. Ist es das Schuldgefühl? Oder die Absurdität deines Verbrechens?«
    »Weder-noch. Es ist der Lebensüberdruss.«
    »Bring nicht alles durcheinander. Du kommst einfach mit deinem Verbrechen, deinen Schuldgefühlen nicht zurecht …«
    »Ich komme mit meinem Verbrechen nicht zurecht, weil es niemanden überrascht. Und weil niemand es versteht. Ich bin müde. Müde und verloren …«
    Müde und verloren, während die Worte Was tun in seinem Kopf herumgeistern.
    Es ist dunkel, und so kann der Gerichtsschreiber diese Worte in Rassuls Augen nicht sehen, so wie der sie in den Augen des Esels gesehen hat.
    Er muss ihm die Geschichte von Nayestan erzählen. Der Alte wird sie vielleicht verstehen.
    Und er erzählt sie.
    Diesmal verweilt er bei zwei Details der Geschichte. Zunächst bei dem eigenartigen Empfinden, das er im Schilf hatte, als er bei Einbruch der Dämmerung aus seinem tiefen Schlaf erwachte: »Angst – erst vage, dann immer deutlicher spürbar – beschlich mich. Dazu kam ein sonderbares

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