Verflucht sei Dostojewski
beurteilen. Das ist doch schon eine ganze Menge. Oder nicht?«
»Doch, das ist eine ganze Menge«, sagt Parwaiz und verfällt in ein langes Schweigen. Dann sagt er: »Darum beglückwünsche ich dich zu deinem Urteil und zu deiner Tat!«, er lächelt. »Du hast es geschafft, ein nichtswürdiges Element der Gesellschaft zu beseitigen. Der Tod dieser Frau hat bestimmt einer ganzen Reihe von Menschen das Leben erleichtert. Das ist übrigens auch der Grund für das Verschwinden ihrer Leiche. Vielleicht war es ihre eigene Familie. Und wenn du sie nicht ermordet hättest, hätte es jemand anders getan; Allah hätte es getan; eine Granate wäre ihr auf den Kopf gefallen … wer weiß! Also musst du zugeben, dass du mehreren Menschen Gutes getan hast …«
»Und ich?«
»Wie, und ich?«
»Was habe ich davon?«
»Du musst dir eingestehen, dass du etwas Wichtiges getan hast: Du hast Gerechtigkeit geschaffen.«
»Gerechtigkeit! Was für eine Gerechtigkeit denn? Wer bin ich, um über Leben und Tod zu entscheiden. Töten ist ein Verbrechen, das abscheulichste, das ein Mensch begehen kann.«
» Watandar , Mord ist ein Verbrechen, wenn das Opfer unschuldig ist. Diese Frau musste bestraft werden. Sie hat deiner Familie, deiner namus, unrecht getan. Sie hat dich entehrt. Was du getan hast, nennt man Rache. Niemand hat das Recht, dich als Mörder zu verurteilen. So ist das nun mal.«
»Kommandeur, mein Problem ist nicht das Wissen darum, wie die anderen mich beurteilen; mein Problem bin ich. Diese Qualen, die mich innerlich zerfressen, wie eine Wunde, eine klaffende, nicht heilende Wunde.«
»In diesem Fall gibt es nur zwei Lösungen: Entweder du amputierst das verletzte Glied, oder du gewöhnst dich an deinen Schmerz.« Parwaiz nimmt seinen pakol ab, dreht den Kopf zur Seite und zeigt auf eine Stelle hinten an seinem kahlen Schädel: »Schau mal.«
Rassul beugt sich vor und schaut.
»Fass an.«
Rassul streckt ängstlich seine Hand aus; sein Finger berührt Parwaiz’ Kopf. »Spürst du was?« Rassul zögert mit der Antwort, dann zieht er abrupt die Hand zurück.
»Weißt du, was das ist? Das ist ein Granatsplitter.« Parwaiz setzt den pakol wieder auf. »Der steckt schon jahrelang dadrin. Es war während des Dschihad. Ich kam nach Hause, um meine Frau und meinen Sohn zu sehen. Die Russen kriegten Wind von unserer Ankunft im Dorf und bombardierten es. Eine Granate traf unser Haus. Ein heftiger Einschlag machte meine Familie zu Märtyrern, und ein kleiner Splitter blieb in meinem Schädel. Ich wollte ihn nie entfernen lassen. Ich wollte mit ihm leben, damit der Schmerz mich daran hindert, den Tod meiner Angehörigen zu vergessen. Diese Granate hat mir im Dschihad Kraft und Hoffnung gegeben. Ein französischer Arzt sagte mir, der Splitter müsse entfernt werden, ich könne nicht mehr als zehn Jahre damit leben. Aber ich will sowieso nicht länger als zehn Jahre damit leben.« Ein schallendes Lachen, um seinen bitteren Bericht aufzuhellen. »Du hast auch einen Splitter, einen inneren Splitter, eine innere Wunde, die dir Kraft gegeben hat.«
»Kraft wozu?«
»Kraft, um zu leben und für Gerechtigkeit zu sorgen.«
Ein junger Mann bringt ihnen das Frühstück. Der Kommandeur fragt nach Jano. »Keine Neuigkeiten von ihm. Man hat ihn noch nicht gefunden …«
»Was soll das heißen? Er hat sich doch nicht in Luft aufgelöst! Man soll überall nach ihm suchen!«
»Ich bin ihm vor vier, fünf Tagen begegnet«, mischt sich Rassul ein.
»Wo?«
»Er hat mich zum Tee in die tschaichana von Soufi eingeladen. Dort hat er Mudschaheddin getroffen, mit denen ihr im Dschihad eine gemeinsame Operation gegen eine sowjetische Militärbasis durchgeführt habt.«
»Erinnerst du dich an ihre Namen?«
»Es waren Männer von Kommandeur … Nawroz, glaube ich.« Parwaiz wirkt zunehmend besorgt. Er bittet den jungen Mann, in die tschaichana von Soufi zu gehen und Erkundigungen einzuholen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagt er zu Rassul: »Nehmen wir den Fall Jano. Er ist mein Adoptivsohn. Die Russen haben sein Dorf zerstört, seine Familie massakriert. Aber er hat die Überlebenskraft eines Löwen. Das kommt von seinem Rachewillen«, und lässt Rassul über seine Worte nachdenken.
»Eure Wunden sind euch von anderen zugefügt worden. Aber meine Wunde habe ich mir selbst zugefügt. Statt dass sie meine Kräfte verdoppelt, erdrückt sie mich, sie führt mich nirgendwohin. Manchmal denke ich, ich wollte die Alte nur ermorden, um
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