Verflucht sei Dostojewski
Gefühl der Losgelöstheit. Einer Losgelöstheit, die nicht von mir kam. Sie war da, am Himmel, im Schilf, im Wind, außerhalb von mir … Alles löste sich von meinem Körper, von meinem Geist, mit einem Wort: von meinem dschan . Alles entfernte sich von mir. Woher rührte dieses Gefühl? Vom leeren Himmel? Vom Windhauch, der durch das Schilf wehte? Vom vergeblichen Warten meines Vaters? … Ich verstehe es noch immer nicht.«
Und dann beschreibt er natürlich bis in alle Einzelheiten den Blick des Esels. Doch diesmal sieht er ein anderes Gefühl in dessen Augen: »Der Blick drückte nicht nur seine Verwunderung aus, Was tun , sondern auch seine Müdigkeit, seine Bitte: ›Bringt es zu Ende!‹ Der Esel bettelte darum. Er verstand nicht, was mit ihm geschehen war. Er fühlte sich dazu verdammt, immer wieder denselben Weg zu gehen, bis in alle Ewigkeit. Er wollte, dass es ein Ende hatte. Und da er nicht selbst dafür sorgen konnte, bat er uns, es für ihn zu tun. Indem er uns die Vollstreckung aufzwang, forderte er uns auf, über unsere eigene Situation nachzudenken, über unser eigenes Schicksal.«
Der Gerichtsschreiber reicht Rassul ein Stück Brot und nimmt sich selbst auch eins. Während er das Brot ins Ragout tunkt, sagt er: »Das ist eine hübsche Geschichte. Sie erinnert mich an die von Mullah Nasrudin. Er kommt eines Tages glücklich und zufrieden nach Hause. Seine Frau erkundigt sich nach dem Grund für seinen Gemütszustand. Mullah antwortet: ›Ich habe meinen Esel verloren.‹ Seine Frau erwidert: ›Und das macht dich glücklich?‹ Er sagt: ›Ja, sicher! Ich bin froh, dass ich nicht auf dem Esel saß, als ich ihn verloren habe, sonst wär ich nun auch verloren! …‹ Ich weiß, es ist nicht der richtige Augenblick, um Witze zu erzählen. Aber bei deiner Geschichte musste ich daran denken. Ihr habt euch verirrt, weil sich der Esel verirrt hat. Und heute willst du zum Tode verurteilt werden, weil der Esel es dir vorgemacht hat! Es ist gut, sehr gut, alles zu lernen, von allen zu lernen, selbst den Willen zum Sterben, selbst von einem Tier.« Er steht auf. »Morgen früh zur Stunde des Gebets gehe ich deinen Kommandeur suchen. Iss jetzt und schlaf.« Er nimmt die Laterne und geht, deklamiert in der Stille des Flurs: » Selbst die nach Wahrheit und nach Tugend streben / Selbst die versuchen, den Schleier zu heben / Selbst sie beenden die Reise, lang eh das Ziel erreicht / Sie werden reden und reden und dann dem Schlaf sich ergeben .« Er verschwindet in der Finsternis der Nacht.
Rassul kehrt an seinen Platz zurück. Essensgeruch hängt in der Luft. Widerlich. Mit dem Tablett in der Hand verlässt er die Zelle. Am Ende des Flurs durchbricht ein schwaches Licht die Dunkelheit und führt Rassul zu einer halboffenen Tür. Er sieht den jungen Wärter, der einen Joint raucht. Er streckt ihm das Tablett entgegen, der Wärter bedankt sich und bietet ihm einen Zug von seinem Joint an. »Seit acht Monaten bin ich nun schon hier. Du bist mein erster und einziger Gefangener. Hattest du nichts Besseres zu tun, als dich zu stellen und uns auf den Wecker zu fallen?! … Was hast du eigentlich verbrochen?«, fragt er und beißt in ein großes Stück Brot.
»Ich habe getötet.«
»Hast du deinen Vater getötet?«
»Nein.«
»Deine Mutter?«
»Nein.«
»Deinen Bruder?«
»Nein.«
»Deine Schwester?«
»Nein. Niemanden aus meiner Familie. Ich habe eine alte Frau getötet.«
»Aus Rache?«
»Ich weiß nicht.«
Sie schweigen, schläfrig, die Blicke verloren in den Rauchspiralen, die von den verbrannten Flügeln eines Nachtfalters aufsteigen, der der Flamme in der Laterne seine Ehre erwiesen hat.
EIN LICHTSTRAHL FÄLLT DURCH das Fenster und beleuchtet ein Stück der feuchten, vermoderten Wand, die mit Kritzeleien und Zeichnungen früherer Gefangener übersät ist. Irgendein philosophischer Kopf hat geschrieben: » Alles geht vorbei« , ein anderer, ein Verliebter wohl: »Liebe ist keine Sünde « , und wiederum ein anderer, eine Dichternatur:
»Abgestumpft bin ich
und voll der Träume.
Die ganze Welt ist im Schlaf versunken.
Ich, unfähig zu sprechen; sie, unfähig zu hören.«
Rassul kennt die Sprüche. Er hat sie schon gehört, gelesen. Aber vor allem der letzte interessiert ihn. Von wem ist er? Wer hat ihn geschrieben? Wann? Für wen?
Für mich.
Er geht zur Wand, streicht mit der Hand über die Inschrift. Doch das Geräusch von Schritten im Flur lässt seine Finger auf den Buchstaben erstarren.
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