Verflucht sei Dostojewski
Die Tür geht auf, bewaffnete Männer betreten die Zelle, die Gesichter unkenntlich in der Dunkelheit. Rassul kauert sich zusammen, richtet sich aber wieder auf, als er eine bekannte Stimme hört: »Wie geht es unserem watandar ?« Es ist Parwaiz, in Begleitung zweier Männer und des Gerichtsschreibers. Rassul springt auf. »Salam!« Parwaiz, verwundert: »Sieh an! Hast du deine Stimme wiedergefunden?«
»Ja, vor zwei Tagen.«
»Dann kannst du mir ja endlich alles erzählen. Ich will alles aus deinem Mund erfahren.«
»Ich bin gekommen, um mich der Justiz zu stellen.«
»Das hat mir der Gerichtsschreiber erzählt«, sagt Parwaiz.
Rassul fährt mit seinem Bericht fort: »Als man mich nachts zu Ihnen brachte, hatte ich zuvor einen Mord begangen.«
Der Kommandeur verlässt die Zelle und bedeutet Rassul, ihm zu folgen. »Nichts geschieht aus Zufall! Warum hast du getötet?«
»Warum? Ich weiß es nicht.«
Parwaiz bleibt stehen, mustert ihn: »Wie wir alle!«
»Mag sein. Aber …« Er hält inne. Das ist der Augenblick für den Gerichtsschreiber, sich einzuschalten: »Kommandeur sahib , er hat die Alte getötet, um seine Verlobte zu retten.«
»Was hat sie deiner Verlobten angetan?«, fragt Parwaiz Rassul, dem es schwerfällt, darüber zu sprechen. Er schämt sich. Ein vielsagendes Schweigen entsteht.
»Wollte sie sie zu einer …?«
»Ja.«
»Dann hast du gut daran getan«, sagt Parwaiz mit solcher Überzeugung, dass Rassul sprachlos ist und der Gerichtsschreiber hinter ihm in Lachen ausbricht. Rassul bleibt stehen. Er überlegt: Habe ich gut daran getan? Er nimmt mich genauso wenig ernst, der Sicherheitschef, ein Mudschaheddin, ein Mann des Rechts. Dann sagt er: »Wie das, gut daran getan? Es war Mord, vorsätzlicher Mord …«, und angesichts von Parwaiz’ Schweigen verstummt er wieder.
Sie betreten das Gebäude, in dem sich die Büros des Justizarchivs befinden. Vor der Tür zu einem großen Raum verlässt sie der Gerichtsschreiber mit einem an Rassul gerichteten Kopfschütteln, nicht, um sich von ihm zu verabschieden, sondern um zu sagen: »Was für ein Dummkopf!«
Parwaiz lässt sich in einen durchgesessenen, altersschwachen Sessel fallen und fordert Rassul auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Er fährt fort, als hätte er nie zu reden aufgehört: »An deiner Stelle hätte ich genauso gehandelt.«
»Aber wozu, ich konnte damit weder an meinem Leben noch an dem meiner Verlobten etwas ändern. Ich habe niemandem einen Gefallen getan. Es ist mehr Leid entstanden als Gutes.«
»Um Gutes zu bewirken, muss man erst leiden …«
»Noch schlimmer, mein Leben ist zur Hölle geworden. Ich habe meine Verlobte verloren und das Geld … Ein völlig unnützes Verbrechen … Sogar die Leiche ist verschwunden. Alle denken, nana Alia sei verreist. Sagen Sie mir, gibt es ein lächerlicheres Verbrechen?«
»Sag mir zuerst, warum du deine Tat nicht zu Ende geführt hast.«
»Eben, das frage ich mich auch. Vielleicht konnte ich nicht …«
»Oder du wolltest nicht. Weil du kein Gauner bist. Du bist ein gerechter Mensch.«
»Das war auch Dostojewskis Fehler.«
»Dostojewskis Fehler? Was hat der denn schon wieder damit zu tun, dein großer Dichter?«
»Er hat mich daran gehindert, meine Tat zu Ende zu führen.«
»Wie das?«
»Als ich das Beil hob, um es der alten Frau auf den Kopf zu schlagen, schoss mir plötzlich die Geschichte von Verbrechen und Strafe in den Sinn. Und schmetterte mich nieder. Dostojewski, ja, er war es! Er hat mir untersagt, Raskolnikows Schicksal zu folgen, Opfer meiner Gewissensbisse zu werden, in den Abgrund meiner Schuldgefühle zu fallen, im Gefängnis zu landen …«
»Und wo bist du jetzt?!«
Rassul senkt den Kopf und murmelt: »Ich weiß es nicht … Nirgendwo.«
»Rassul dschan , du liest zu viel. Schön und gut. Aber etwas solltest du wissen: Dein Schicksal steht nur in einem einzigen Buch geschrieben, im Buch Lauh Mahfuz , dem wohlverwahrten Buch, geschrieben von …«, er zeigt mit dem Finger zur Decke, wo ein paar Fliegen herumsurren. »Die anderen Bücher können nichts ändern, weder auf der Welt noch im Leben von irgendjemandem. Schau, hat Dostojewski irgendetwas in seinem Land verändern können? Hat er einen gewissen Stalin beeinflussen können?«
»Nein. Aber wenn er dieses Buch nicht geschrieben hätte, hätte er vielleicht selbst ein Verbrechen begangen. Und er hat mir dieses Bewusstsein verliehen, diese Fähigkeit, mich zu beurteilen und Stalin zu
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