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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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herauszufinden, ob auch ich fähig bin zu töten, so wie all die anderen …« Er senkt den Kopf. Während Parwaiz ihm Tee einschenkt, fährt er fort, als spräche er mit sich selbst: »Ich habe festgestellt, dass ich nicht dafür geschaffen bin. Neulich wollte ich noch jemanden töten und habe es nicht fertiggebracht …«
    »Vielleicht, weil er unschuldig war?«
    »Unschuldig? Ich weiß es nicht. Aber er hat meine Verlobte beleidigt, er hat sie aus dem Schah-e-Do-Schamschera-Wali-Mausoleum geworfen.«
    »Ist das alles?« Parwaiz stellt den Tee vor Rassul hin. »Du kannst eben nicht grundlos töten.«
    »Vielleicht wollte ich ihn töten, um unter mein gescheitertes Verbrechen einen Schlussstrich zu ziehen.«
    »Und dieser Mord wäre genauso gescheitert, da du ihn grundlos begangen hättest.«
    »Ich glaube, so ist es immer. Man begeht eine Tat in der Hoffnung, die vorherige, die man als gescheitert betrachtet, zu vergessen … Und so setzen sich die Verbrechen fort, in einer endlosen Spirale. Darum habe ich mich der Justiz gestellt; damit ein Prozess alldem ein Ende bereitet.«
    » Watandar , du weißt genau, dass ein Prozess nur dann Sinn hat, wenn es Gesetze gibt, die das Recht durchsetzen. Wie steht es denn heute mit den Gesetzen und der Macht?«
    »Geht es dir auch um Rache?«
    »Vielleicht.«
    » Auge um Auge, und die Welt wird blind werden , hat Gandhi gesagt.«
    »Er hatte recht. Aber was immer man tut, die Rache ist tief in uns verwurzelt. Alles ist Rache, selbst ein Gerichtsverfahren.«
    »Dann hört der Krieg niemals auf.«
    »Doch. An dem Tag, an dem eines der Lager bereit ist, ein Opfer zu bringen, nicht mehr auf Rache zu sinnen. Von daher die Notwendigkeit, alles hinter sich zu lassen, seine Taten, seine Verbrechen, seine Rache. Selbst das Opfer, das man bringt. Aber wer kann das schon? Niemand. Nicht einmal ich.«
    Parwaiz weiß Bescheid. Er ist zu allem fähig. Lass ihn nicht mehr los. An dir ist es, ihn zu schütteln, zu seiner Mission zurückzuführen. Es fehlt ihm nur ein Opfer, ein Komplize. Der wirst du sein. »Ich will, dass die Justiz mir den Prozess macht. Ich will geopfert werden.« Wieder Stille. Es ist Parwaiz’ Blick, der Schweigen gebietet. Ein bewundernder und fragender Blick. Rassul fährt fort: »Mit diesem Prozess wird mein Leiden ein Ende nehmen … Er wird mir die Gelegenheit geben, all jenen, die wie ich Morde begangen haben, meine Seele zu zeigen …«
    »Hör auf, dich für die Figur von Dostojewski zu halten, bitte. Seine Tat hatte ihren Sinn in seiner Gesellschaft, in seiner Religion.«
    »Sie wissen doch: Was den Westen wachgerüttelt hat, ist das Verantwortungsgefühl, das aus dem Schuldbewusstsein erwachsen ist.«
    »Maschallah!« Parwaiz wirbelt herum, verschüttet seinen Tee. »Gott sei gelobt, dass er ihnen dieses Schuldbewusstsein verpasst hat, denn was wäre sonst aus der Welt geworden!«, und bricht in sarkastisches Gelächter aus. »Du willst dich also wirklich für deine Hirngespinste opfern.«
    »Ich opfere mich lieber für meine Hirngespinste, als dass ich die anderen opfere. Ich will, dass mit meinem Tod …«
    Schüsse, nicht weit vom Wellayat entfernt, lassen ihn verstummen. Parwaiz schenkt sich Tee nach und wartet auf die Fortsetzung.
    »Ich will, dass mein Tod ein Opfer ist …«
    »Das Land braucht nicht noch mehr Tote, noch mehr schahid  …«
    »O nein! Ich will kein schahid sein …«
    Hör jetzt auf, Rassul! Du bist bereits zu weit gegangen.
    Ich habe ihm noch mehr zu sagen.
    Tausendmal gehörte Sachen!
    Ja, aber nicht von ihm. Er kann mich verstehen. Er weiß, dass die Existenz Allahs keine Zeugen, keine Märtyrer braucht.
    Wenn er es weiß, kannst du dir deine Reden sparen. Komm mit deiner Predigt zum Ende: »Ich will, dass mein Prozess, mein Urteil, Zeugnis ablegt von dieser Zeit der Ungerechtigkeit, der Lüge, der Scheinheiligkeit …«
    » Watandar , in dem Fall müsste der ganzen Nation der Prozess gemacht werden.«
    »Warum nicht? Mein Prozess wird dazu dienen, sämtlichen Kriegsverbrechern den Prozess zu machen: den Kommunisten, den Warlords, den Söldnern …«
    Ein langes Schweigen entsteht. Parwaiz trinkt seinen Tee nicht aus. Er ist woanders, dort, wohin sich sein Blick verloren hat. Weit weg. Sehr weit. Jenseits des Tages, der sich am Fenster bemerkbar macht. Dann steht er plötzlich auf.» Watandar , kehr ins Leben zurück, zu deiner Familie. Geh woandershin! Dieser schmutzige Krieg hier hat seine eigenen Gesetze, seine eigenen

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