Verflucht sei Dostojewski
nur vor ihrer unschuldigen Schönheit niederknie, sondern auch vor ihrem Leid. Und sie wird mir sagen, solch zarte Dinge hätte ich ihr schon lange nicht mehr gesagt. Ich werde ihr sagen, dass ich ihr viel zu sagen gehabt hätte, dass der Krieg uns aber nicht die Zeit dafür gelassen habe. Und ich werde sie küssen. Sie wird die Hand ausstrecken, um meine zu ergreifen. Ich werde sie bitten, mit mir wegzugehen. Weit weg. Sehr weit. In ein sehr schönes Tal, wo noch niemand sprechen kann, wo also noch niemand die Erfahrung des Bösen gemacht hat. Ein Tal mit dem Namen Tal der wiedergefundenen Infans .
Schritte hallen durch den Hof des Hauses, vertreiben Rassul von der Tür. Zwei Frauen im Tschaderi treten heraus und verschwinden, ohne ihn zu beachten, in einer Gasse. Wer war das?
Suphia und ihre Mutter?
Sie haben mich nicht gesehen. Oder sie haben mich nicht erkannt. Ich existiere nicht. Ich bin nichts mehr.
»Suphia!« Der Schrei tritt nicht heraus, bleibt in den Stimmbändern hängen. Wie vorher. Mit dem Rücken an der Mauer lässt er sich zu Boden gleiten. Umschlingt seine angezogenen Beine. Legt den Kopf auf die Knie. Schließt die Augen. Und verharrt ein paar Augenblicke so, eine Ewigkeit.
Hier wird er bleiben.
Hier wird er sterben.
Hier.
Und es sind schon Jahre, viele Jahre, eine Ewigkeit, dass er hier an dieser Mauer sitzt.
Es sind schon Jahre, viele Jahre, eine Ewigkeit, dass er auf Suphia wartet.
Und Suphia sieht ihn nie, erkennt ihn nie …
»Rassul?« Dawuds Stimme lässt ihn den Kopf heben. Der Junge steht mit einem Ölkanister in der Hand vor ihm. »Guten Tag, Rassul.«
»Was für eine Überraschung! Bist du denn gar nicht auf dem Dach?«
»Glaubst du, meine Mutter lässt mich in Ruhe arbeiten? Suphia ist oft nicht hier.«
»Arbeitet sie?«
»Ja. Immer noch bei nana Alia, die verschwunden ist; Nazigol hat Angst, allein zu sein. Suphia verbringt die ganze Zeit bei ihr, sogar die Nächte. Aber sie kommt ab und zu vorbei.« Er stellt den Kanister auf den Boden. »Der ist schwer … Und du, kommst du nicht mehr zu uns?«
»Wie du siehst, bin ich da.«
Der Junge reibt sich die Hände, nimmt den Kanister wieder auf, »ich muss gehen, meine Mutter wartet auf mich«, wartet, dass Rassul aufsteht, »kommst du?«
»Ich möchte Suphia sehen.«
»Sie ist da.«
»Ich glaube, sie ist ausgegangen.«
»Vielleicht. Komm einen Tee trinken.«
»Nein, ein andermal.«
Kaum ist Dawud im Haus verschwunden, klopft Rassul, nach einem kurzen Zögern, an die Tür. Dawud öffnet ihm. »Sag Suphia und deiner Mutter nicht, dass ich hier war.« Der Junge nickt, mit gesenktem Blick, als wollte er seine Traurigkeit vor seine Füße auf den Boden schütten. Er schließt die Tür und nimmt Rassuls Verzweiflung mit sich.
Rassul macht sich auf den Weg, doch nach drei Schritten bleibt er stehen, holt das Geld aus der Tasche.
Ich brauche das nicht.
Er kehrt um und klopft noch einmal an die Tür. Wieder ist es Dawud, der ihm öffnet. Rassul gibt ihm das ganze Bündel: »Und darüber sagst du auch nichts. Gib es Suphia. Sag ihr, du hättest es mit dem Verkauf deiner Tauben verdient!« Verblüfft, schon wieder so viel Geld in Händen zu haben, bleibt der Junge wie angewurzelt im Türrahmen stehen, bis Rassul von dem Staub verschluckt wird, den ein Kleinlaster aufwirbelt.
Zu Hause begegnet Rassul weder Yarmohamad noch seiner Frau.
Wie er es gehofft hat.
Er betritt sein Zimmer. Die Kinder sind gegangen. Nur die Fliegen sind noch da, schwirren um das Tablett mit dem Käse und den Rosinen herum. Die Serviette, die daraufliegt, ist ganz schwarz inzwischen, schwarz vor Fäulnis. Sein Bett ist wie immer zerwühlt, gleichgültig. Diese Gleichgültigkeit breitet sich auf die Bücher aus, die überall verstreut sind, mit ihren fleckigen Deckeln; auf die schmutzigen Kleider, die sich in einer Ecke stapeln; auf den leeren Krug am Boden …
Warum ist alles so gleichgültig gegenüber meiner Rückkehr?
Er nimmt ein Glas.
Alles ignoriert mich.
Er wirft das Glas auf die Matratze. Durch das Fenster schaut er in den leeren Hof, ganz ohne Kindergeschrei.
Nichts erkennt mich wieder.
Eine Maus läuft unbekümmert durch den Raum.
Wie kann ich leben in dieser Gleichgültigkeit, die mir meine Gegenstände entgegenbringen?
Er schiebt mit dem Fuß das Kopfkissen beiseite und bleibt lange mitten im Zimmer stehen.
Nichts ist schlimmer, als seiner eigenen Welt nicht mehr anzugehören. Kein Gegenstand will mich in Besitz
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