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Verflucht sei Dostojewski

Verflucht sei Dostojewski

Titel: Verflucht sei Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Atiq Rahimi
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ins Ohr: » Qhazi sahib , ich erlaube mir, Sie daran zu erinnern, dass die Amputation nach der Scharia für ein Individuum, das an einem öffentlichen Ort ein Gut ohne Eigentümer gestohlen hat, nicht die gültige Strafe ist.«
    »Und aus welchem Grund?«
    » Qhazi sahib , man hat den Imam Ali gefragt, ob die Strafe der Amputation auch anzuwenden ist auf einen Diebstahl von Tieren, die niemandem gehören und sich an einem öffentlichen Ort aufhalten, und der Heilige hat dies verneint.«
    »Du willst mir also eine Lektion über die Scharia erteilen?«
    » Astaghfirullah! Das war nur eine Erinnerung, ehrwürdiger Qhazi sahib. «
    »Dann erinnere ich dich auch an etwas: Hier bin ich der Qhazi . Und ich befehle, dass die Hände dieses Mannes abgeschlagen werden.« Der Gerichtsschreiber hält dem Richter ein Blatt und einen Stift hin: »Dann bitte ich Sie, Qhazi sahib , dies mit eigener Hand aufzuschreiben.«
    »Du gehorchst mir also auch nicht? Und lässt es außerdem an Respekt fehlen?«
    »Jeder respektlose Gedanke liegt mir fern, ehrwürdiger Qhazi sahib . Ich fürchte nur, dass man, wenn Sie einst nicht mehr da sind – Allah möge Sie dieser Welt noch lange gesund und wohl erhalten –, mich beschuldigt, einen Befehl gegen die Schariageschrieben zu haben.«
    »Gegen die Scharia? Mein Befehl soll gegen die Scharia verstoßen? Raus! Du nimmst deine Sachen und verschwindest von hier, und zwar so schnell wie eine Gewehrkugel!«
    Der Gerichtsschreiber will noch etwas sagen, doch der Richter bedeutet dem Wächter, ihn hinauszuwerfen. Der Alte nutzt die Gelegenheit, um sich auf die Knie zu werfen und den Qhazi anzuflehen. Dieser aber unterbricht ihn auf der Stelle: »Schweig, schweig! Es empfiehlt sich nicht, im Zorn zu urteilen«, dann sagt er zum Wächter: »Führt ihn ins Gefängnis und bringt ihn morgen noch einmal her!«
    Der Wächter geht mit dem Alten hinaus, und der Aufseher des Mausoleums folgt ihnen. Rassul bleibt.
    »Hast du den Schmuck geholt?«, fragt ihn der Richter.
    Indem er langsam auf ihn zugeht, sagt Rassul: »Nein.«
    »Was soll das heißen, nein! Warum hast du dann das Gefängnis verlassen?«
    »Weil man mir gesagt hat, ich hätte dort nichts mehr zu suchen.«
    »Wer?«, brüllt der Richter, dann ruft er den Wächter und befiehlt ihm, Rassul ins Gefängnis zurückzubringen, »in eine Einzelzelle! Und morgen schickt ihr ihn zur Amputation, danach zum Hängen!«

DAS MORGENROT HINTER DEN Gittern verharrt still zwischen Tag und Nacht. Während die Muezzins die Gläubigen zum Gebet rufen, die Waffen der Vergeltung erwachen, Suphia in ihrem Bett ihre Unschuld umarmt, Razmodin in Mazar-e Scharif die Ehre der Familie rettet … vergisst Rassul die Welt, die ihn loslässt. Er sitzt in einer Ecke der Zelle. Er erwartet niemanden. Er erwartet nichts mehr. Er beschließt, wieder stumm zu werden. Und taub dazu.
    Ja, ich höre nicht mehr. Ich spreche nicht mehr.
    »Wir sind nicht fähig zu sprechen,
    Wenn wir doch zuhören könnten!
    Wir müssen alles sagen!
    Und alles hören!
    Doch
    Unsere Ohren sind versiegelt,
    Unsere Lippen sind versiegelt,
    unsere Herzen sind versiegelt.«
    Man muss dieses Gedicht hier in dieser Zelle aufschreiben, in die Wand ritzen. Er sucht den Boden nach einem Steinchen ab, nach einem Stück Holz. Da ist nichts. Dann halt mit den Fingernägeln. Er beginnt, die Wörter in die abblätternde Farbe zu ritzen. Es ist schwierig. Es tut weh. Er kratzt. Er blutet. Er schreibt weiter. Er schreibt, bis sich Schritte nähern und vor seiner Zelle stehen bleiben, das Klimpern von Schlüsseln durch den Flur hallt, die Tür aufgeht und eine heisere Stimme befiehlt: »Raus!« Da erst hört er auf zu schreiben und verharrt unbeweglich, unbewegt, den Blick auf die Wörter geheftet.
    Zwei bewaffnete Männer stürmen in den Raum, packen ihn an den Armen, zerren ihn hoch. Ohne ein Wort führen sie ihn zum Gerichtssaal. Aus der Tür dringt Stimmengewirr: »Mörder«, »Kommunist«, »Geld«, »Rache« … Dieselben tausendundein Mal gehörten Wörter, die ihn früher erschreckten oder amüsierten, heute aber stumm machen. Er hört sie nicht mehr.
    Die Tür öffnet sich.
    Rassul geht hinein.
    Der Saal verstummt.
    Alle sind sie da, sitzen im ganzen Saal verteilt auf Holzstühlen. Alle mit Bärten, alle mit schwarzen Turbanen, oder mit weißen; mit Mützen, tscharma , karakul , pakol  … Alle schauen Rassul an. Er ist ruhig. Sein Blick schweift durch den Saal, bleibt bei Farzan hängen, der mit seinem ewig

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