Verflucht seist du: Kommissar Dühnforts fünfter Fall (German Edition)
Gedanke daran erschien ihr wie ein Verrat. Seit Monaten war sie wie gelähmt, gefesselt, in Trauer gefangen. Wie sie das Abi geschafft hatte, wusste sie selbst nicht. Das Abi. Das Studium. BWL. Sie wollte nicht. Kunst oder Architektur. Das würde ihr Freude machen. Und wenn schon BWL, dann nicht in München. Sie musste hier raus.
Sie musste hier weg. Weg von dieser Familie.
Dieser Gedanke war plötzlich da. So klar und vernünftig und einleuchtend, als hätte er nur darauf gewartet, endlich von ihr wahrgenommen zu werden. Schlagartig fühlte sie sich wie befreit.
Weg aus München. Weg von Mams fürsorglicher Umklammerung. Weg von Phillips arroganter Gleichgültigkeit, weg von Paps, der ohnehin nie da war. Alles einfach hinter sich lassen. Eine neue Stadt. Neue Leute kennenlernen. Das studieren, was sie wollte. Wenn Paps das nicht finanzierte, würde sie eben jobben. Andere taten das schließlich auch. Wo konnte man Architektur studieren?
Mika warf einen letzten Blick in den Pool. Da war nichts, wovor man sich fürchten musste. Keine Fläche aus Glas. Fester Boden statt trügerischer Sicherheit. Sie setzte sich an ihr MacBook und machte sich auf die Suche. Hamburg, Berlin, Wien, Köln. Überall konnte man Architektur studieren. In die Webseite der Beuth Hochschule für Technik in Berlin tauchte sie richtiggehend ein. Was sie las, gefiel ihr, versetzte sie in beinahe fiebrige Hoffnung, dort angenommen zu werden. Leider gab es keine Informationen, ob die Anmeldefrist schon abgelaufen war und welche Unterlagen man überhaupt einreichen musste. Kurzentschlossen schrieb sie eine Mail und fragte einfach nach.
Falls sie die Einschreibungsfrist verpasst hatte, würde sie eben jobben oder ein Praktikum machen und es zum nächstmöglichen Termin wieder versuchen. Mit einem Schlag war die Lethargie, die sie seit Monaten lähmte, wie weggeblasen. Kein Urlaub auf den Seychellen. Job- und Wohnungssuche in Berlin standen an. Auf ihrem Konto war genug Geld, um die ersten Monate zu überbrücken. Sie war erwachsen. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Sie würde ihren Kram packen und nach Berlin ziehen. Noch diesen Monat.
Wie aus dem Nichts kamen die Tränen. Ein Sturzbach begann zu laufen. Heulend warf sie sich aufs Bett, ließ der Sintflut freien Lauf, ein felsengroßer Klumpen löste sich, wurde fortgeschwemmt. Als die Tränen versiegt waren, fühlte sie sich unsagbar erleichtert.
Warum war sie nur nicht früher auf die Idee gekommen? Mit einem Schlag fühlte sich alles gut und richtig an. Von weit her schien eine Stimme zu kommen. Isas Stimme.
That’s it, Mika. Es ist dein Leben. Endlich hast du es kapiert.
»Besser spät als nie. Hat ja lange genug gedauert«, sagte sie in die Stille ihres Zimmers hinein.
Sie stand auf, streckte sich, wuschelte mit den Händen durch die kurzen Haare. Es kam ihr vor, als ob sie sich häutete. Sie schälte Schichten ab, die sie umgaben und ihr wahres Wesen verbargen. Langsam kam sie sich näher. Wenn sie erst in Berlin war, würden die letzten Häute fallen und die wahre Mika erscheinen.
Zeit, den Tag zu beginnen. Auch wenn es schon Abend war. Sie ging unter die Dusche, zog sich an und schrieb Lukas eine SMS. Lust auf ein Treffen auf der Praterinsel? Es gibt was zu bequatschen.
Als sie das Handy wieder einsteckte, fiel ihr Blick auf die Mailausdrucke. Ein nicht allzu dicker Stapel, den sie noch durchsehen wollte. Isas Passwort hatte auch bei Webmail funktioniert, und dort waren tatsächlich noch alle Nachrichten gespeichert, die Sascha Isa je geschickt hatte. Mika hatte sie ausgedruckt, aber noch keinen Blick hineingeworfen. Und jetzt hatte sie keine Lust, sich damit zu beschäftigen. Morgen war auch noch Zeit dafür.
74
Ein Einsatzfahrzeug parkte vorm Haus, daneben der Notarztwagen. Die Blaulichter waren ausgeschaltet. Eine trügerische Ruhe. Im Vorgarten standen zwei Streifenpolizisten. Einer sog ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf die Kippe auf den gepflasterten Weg. Dühnfort parkte vor dem Container. Schalbretter lehnten daran. Die Kuppe eines Kiesberges ragte über die Kante.
»Wenn Sie den bitte wieder einsammeln würden.« Dühnfort wies auf den Zigarettenstummel. »Es erleichtert die Arbeit der Kriminaltechniker.«
»Seit wann brauchen wir bei Selbstmord die KTUler?« Der Kollege hob jedoch die Kippe auf und sah sich suchend um.
»Solange das nicht hundertprozentig sicher ist, wäre es mir lieber, wenn alles unberührt bliebe.«
Vor zwanzig Minuten hatte
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