Verfolgt im Mondlicht
weiter auf den Wasserfall. Dann rieb sie sich fröstelnd die Arme und schaute Kylie fragend an. »Besuch?« Kylie nickte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie wieder in Hannahs trauriges Gesicht schaute.
Holiday zog fröstelnd die Schultern hoch. »Seltsam. Normalerweise kommen sie nicht hierher.« Sie lehnte sich an den Felsen und schaute an die Decke, als wollte sie Kylie Zeit mit ihrem Geist geben.
»Sie hasst mich«, erklärte Hannah. »Und ich kann es ihr nicht mal verübeln. Was ich getan hab, war unverzeihlich.« In Hannahs feuchten Augen lag Schuldbewusstsein.
Kylie hätte Hannah fast gefragt, was sie getan hatte, entschied sich dann aber dagegen. Kylie saß schweigend da und spürte die Kälte des Todes, die sich irgendwie mit der Ruhe des Wasserfalls vermischte.
Sie musterte Hannahs Gesicht und wusste plötzlich, dass der Geist einen Weg aus der Verwirrung gefunden hatte und jetzt bereit war, zu reden.
Doch konnte sie sich auch erinnern? An den Moment vor ihrem Tod vielleicht? Oder an den Namen ihres Mörders? Im Moment stand Hannah nur eine Emotion ins Gesicht geschrieben: Reue.
Als sie Hannah so ansah, musste Kylie an ihre eigene Nahtod-Erfahrung denken, als Mario und seine Freunde sie von einer Klippe gestoßen hatten. Sie war sich sicher gewesen, dass sie sterben würde. Und das wäre sie auch, wenn nicht Red, der Enkel von Mario, ihr das Leben gerettet und sein eigenes dabei geopfert hätte.
Sie erinnerte sich an die Reue, die sie verspürt hatte, als sie dachte, ihr Ende wäre gekommen. Wahrscheinlich fühlte sich Hannah gerade genauso. Würde das nicht jedem so gehen? Leben bedeutete, Fehler zu machen, dachte Kylie, – man konnte nicht immer nur Punkte sammeln.
Obwohl Kylie ihre Aufgabe als Geisterseher noch nie so richtig definiert hatte, nahm sie an, dass sie auch darin bestand, den Geistern dabei zu helfen, sich an ihre guten Taten zu erinnern. Und sie dabei zu unterstützen, sich selbst für die größten Sünden zu vergeben. Kylie schien es, als verbrachte man einen Großteil seines Lebens damit, anderen zu vergeben; im Tod ging es dann darum, sich selbst zu vergeben.
Ich wette, ihr zwei wart euch sehr nah, sagte Kylie in Gedanken. Ich kann mir vorstellen, dass ihr viel Spaß miteinander hattet.
Hannah sah Kylie an. »Ja, hatten wir. Ich wünschte nur …«
Hannah brach ab, und Kylie fragte nach einer Weile nach. Was soll ich für dich tun? Soll ich es ihr nur sagen? Oder geht es darum, dass du und die anderen aus dem Grab befreit werden wollt?
»Nein, da ist mehr.« Sie hielt inne, als versuchte sie, sich zu erinnern. »Es darf nicht wieder passieren.« Hannahs geflüsterte Worte hallten von den Felswänden der Höhle wider, und die Kälte verstärkte sich.
Kylie zog ein Knie an den Körper. Was darf nicht wieder passieren?
Hannah schaute gedankenverloren an die Decke. »Ich kann sie nicht ansehen, ohne zu denken … dass ich unrecht hatte. Ich war so eifersüchtig. Und ich habe bekommen, was ich verdient hab. Ich hatte es verdient zu sterben, aber die anderen nicht. Es muss aufhören.« Noch mehr Tränen strömten aus ihren Augen. Das Rauschen des Wassers klang unnatürlich laut in der Stille der Höhle und ließ den Moment irgendwie noch unheimlicher erscheinen.
»Er will sie.« Hannah ging einen Schritt auf Holiday zu. In ihren Augen lag Verzweiflung. »Und du musst ihn aufhalten.«
Kylies Blick fiel auf die Wasserpfütze, durch die Hannah gerade ging und deren Wasseroberfläche sich nicht einmal ein bisschen kräuselte. Hannah blieb dicht vor Holiday stehen und schaute mit einer Mischung aus Liebe und Reue auf sie hinab.
Kylie dämmerte, was Hannah gerade gesagt hatte, und fragte schnell: Wen? Wen soll ich aufhalten?
Holidays Handy klingelte. Die Campleiterin setzte sich auf. »Das ist seltsam. Normalerweise hat man hier nie Empfang.« Verdutzt zog sie ihr Handy aus der Tasche und schaute aufs Display.
Holiday schnappte erschrocken nach Luft, im gleichen Moment wie Hannah. Der Geist gab einen verzweifelten Schrei von sich und rannte dann los. Ihre schnellen Schritte glitten lautlos über den Felsboden.
Hannahs Geist huschte durch den Vorhang aus Wasser, und Kylie schaute schnell zu Holiday, die immer noch wie gebannt auf ihr Handy starrte.
»Wer ist es?«, fragte Kylie.
Holiday schüttelte den Kopf. »Es ist … Blake.«
»Wer ist Blake?« Kylie hatte das Gefühl, er könnte in dem Rätsel eine Schlüsselrolle spielen. War er derjenige, den Kylie aufhalten
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