Verführer der Nacht
denken musste, dass er es sein musste, der Pete getötet hatte, und dass er versucht hatte, sich von dem Leichnam des alten Mannes zu nähren. Ernie Carter sah sehr kräftig aus, aber er wirkte ungepflegt, und seine Kleidung war schmutzig und zerrissen. Speichel lief ihm aus dem Mund, und eines seiner Augenlider hing nach unten. Er beobachtete Paul durch ein Fernglas, rieb sich aber ständig seine tränenden Augen
Colby fühlte sich elend, weil es ihr genauso ging. Sie hatte etwas mit diesem Mann gemeinsam. Irgendwann einmal war er genauso wie Paul gewesen, jung und unschuldig, bis der Vampir ihn in seine Gewalt bekommen hatte.
Nicht ganz unschuldig, bemerkte Rafael. Soweit ich es in ihm erkennen kann, ist seine Vorgeschichte mehr als übel. Sei ganz still, er ist misstrauisch geworden. Paul bewegt sich anders als du, und er merkt, dass etwas nicht stimmt.
Ernie fluchte plötzlich laut, warf die Zigarette weg und legte mit dem Gewehr auf Paul an.
Colby brachte ihre Flinte in Position, einen Finger auf dem Abzug. Sie war ein exzellenter Schütze, aber sie hatte noch nie jemanden getötet. Ihr sank der Mut, und der Finger am Abzug begann, sich zu verkrampfen, obwohl sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Die Sonne, die gerade hinter einer Wolke hervorkam, schien ihr direkt ins Gesicht und blendete sie. Nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken, als plötzlich Tausende Nadeln in ihre Augen zu stechen schienen. Sie blinzelte hastig, um wieder klar sehen zu können und einen Schuss abzugeben, bevor Ernie Paul verletzen konnte.
»Paul! Geh in Deckung!« Sie schrie die Warnung, obwohl sie damit ihren Standort preisgab.
Ernie drehte sich in die Richtung um, aus der ihre Stimme gekommen war, und gab mehrere Schüsse ab. Die Kugeln zischten durch die Luft und schlugen wenige Schritte von ihr entfernt in den Boden ein. Colby, halb blind von der Sonne, aber entschlossen, ihrem Bruder Deckung zu geben, drückte den Abzug.
Gleichzeitig hörte sie, wie zwei weitere Waffen abgefeuert wurden. Juan und Julio schossen ebenfalls auf Carter. Der Handlanger des Vampirs zog sich in den Schutz der Bäume zurück und kroch auf allen vieren durch das Unterholz zu seinem Pferd. Colby erhaschte gelegentlich einen flüchtigen Blick auf ihn, konnte aber keinen gezielten Schuss abgeben. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als Rafael mit dem Rücken zu ihr in die Schusslinie trat. Frisches Blut bildete einen riesigen Fleck auf seinem Hemdrücken.
Nein! Nicht, Rafael! Er war zu schwach. Sie konnte spüren, wie seine Kräfte rapide nachließen. Nicolas! Sag mir bitte, was ich tun soll! Noch während sie seinen Bruder um Hilfe anflehte, sprang sie auf und rannte mit dem Gewehr unter dem Arm los, um Rafael zu helfen. Sie konnte sehen, wie Juan und Julio den Abhang hinunterjagten und sich von zwei Seiten dem Dickicht näherten, um zu Rafael zu gelangen. Colby prallte gegen irgendetwas, verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Boden, vor sich eine Barriere. Sie konnte sie fühlen, aber nicht sehen.
Ernie rappelte sich hoch. Seine blutunterlaufenen Augen waren fast zugeschwollen, doch sein Kopf fuhr herum, als er sein Ziel erspähte. Er legte sein Gewehr auf seine Schulter, obwohl Rafael nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war. Der karpatianische Jäger packte den Lauf, entwand dem Mann die Waffe und schleuderte sie beiseite.
Ernie stieß einen Schrei aus, einen giftigen Laut voller Wut und Hass, und rammte Rafael mit voller Wucht. Es gelang ihm, seine Arme um den Jäger zu schlingen und ihm gleichzeitig seine Zähne in die Brust zu schlagen und seine Faust in die Wunde auf seinem Rücken zu stoßen. Er riss mit den Zähnen ein Stück Fleisch direkt oberhalb des Herzens heraus und spuckte es aus.
Colby schoss mit ihrem Gewehr auf die Barriere, in der Hoffnung, sie zum Bersten zu bringen, aber sie blieb, wo sie war. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie der mutierte Mensch seine Zähne ein zweites Mal in Rafaels Brust bohrte.
Der Karpatianer zuckte mit keiner Wimper, sondern packte mit beiden Händen den Kopf des Mannes und riss ihn mit einem scharfen Ruck herum. Das Knacken von Ernies Genick hallte laut in der Morgenstille wider. Colby atmete erleichtert auf, doch zu ihrem Entsetzen ging Ernie nicht zu Boden. Rafael versetzte ihm einen Stoß. Das zombieartige Geschöpf, dessen Kopf jetzt in einem eigenartigen Winkel auf seinem Hals saß, machte einen Satz nach vorn und ging brüllend und spuckend erneut zum Angriff
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