Verführer der Nacht
einzufahren. Komm jetzt endlich raus!«
Colby schlug die Bettdecke zurück und schirmte ihre Augen mit den Händen ab. Sie schien von Tag zu Tag empfindlicher auf das Sonnenlicht zu reagieren. Hastig duschte sie sich mit kaltem Wasser ab, um die schreckliche Mattigkeit zu vertreiben, die ihre Glieder befallen hatte. Drei Nächte waren vergangen, seit Rafael in die Erde gebettet worden war, um dort Heilung zu finden, drei Tage und Nächte reiner Hölle. Colby versuchte, tagsüber zu schlafen, von zehn Uhr morgens bis ungefähr vier Uhr nachmittags. Der Schlaf hätte ihr Erleichterung bringen müssen, aber sie wurde von endlosen Albträumen gequält. Sie war sogar zu der Stelle gegangen, wo Juan und sie Rafael begraben hatten, doch er war nicht mehr da. Sein Bruder hatte ihn an einen anderen Ort gebracht.
Immer wieder träumte Colby davon, wie Nicolas das Vampirblut aus Pauls Körper sog. Es waren beklemmende Angstträume, die sie zitternd aus dem Schlaf schrecken ließen. In dem Moment, in dem sie die Augen schloss, sah sie das Blut vor sich, das aus Pauls Poren drang, und Parasiten in seinem Blutkreislauf, die sich wie Würmer durch seinen Körper wanden. Wenn sie nicht von Paul träumte, träumte sie von Ginny, wie sie mit weit offenen, vorwurfsvollen Augen in einem flachen Grab lag. Manchmal sah sie in diesen Träumen auch Rafael, der sie anlächelte und ihr gleichzeitig mit seinen Zähnen die Kehle aufriss. Die meiste Zeit lag sie tagsüber einfach nur im Bett, wartete darauf, dass die Lethargie verging, und versuchte, nicht an Rafael und daran zu denken, wie furchtbar seine Verletzungen waren. Sie betete um ungestörten Schlaf, aber ihr Verstand beschäftigte sich unausgesetzt mit der Frage, wie sie ihre Geschwister beschützen könnte.
Oft wachte sie weinend auf, mit einem lähmenden Schmerz in der Brust und benommen vor Kummer. Sie hatte es bis obenhin satt, ständig zu leiden und Angst zu haben. Und sie hasste es, wie die anderen sie die ganze Zeit beobachteten, als könnte sie sich jeden Moment etwas antun.
»Komm schon, Colby, du musst wach werden ! Du hast mir gesagt, dass ich dich auf jeden Fall aus dem Bett holen muss, also mach schon!« Die Küchentür fiel krachend ins Schloss, und Colby zuckte zusammen. Da Ginny zu Besuch bei ihrer neuen Freundin auf der Everett-Ranch war, türmte sich Pauls Geschirr vom Frühstück und vom Mittagessen im Spülbecken. Allein der Anblick der Essensreste bereitete Colby Übelkeit, als sie sich mühsam durch die Küche schleppte. Ihr Körper lehnte es strikt ab, zu dieser Tageszeit zu arbeiten, ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, wieder normal zu funktionieren.
Colby konnte die Trennung von Rafael kaum ertragen. Die Hälfte der Zeit glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Nicolas half ihr durch die langen Nächte, und die Brüder Chevez standen ihr tagsüber bei. Sie war überzeugt, dass Nicolas in ihren wachen Stunden ständig in ihrem Bewusstsein war und sie überwachte, und wenn sie zu lange darüber nachdachte, empfand sie es als Eingriff in ihre Privatsphäre. Alles in ihrem Inneren schrie nach Rafael und verzehrte sich nach ihm, und die Tatsache, dass jemand anders wusste, wie besessen sie von ihm war, war demütigend. Sie war schrecklich unglücklich und hielt kaum noch durch.
Rafael hatte für einiges Rechenschaft abzulegen. Wie zum Teufel stellte er sich vor, dass sie sich um die Ranch und zwei Kinder kümmern sollte, wenn sie so aus den Fugen war? Sie sehnte sich zwar verzweifelt nach ihm, gleichzeitig graute ihr jedoch vor dem Augenblick, wenn sie ihm gegenübertreten und sagen musste, dass es vorbei war. Es musste vorbei sein. Sie konnte nicht in seiner Welt leben. Er war viel zu gefährlich und gewalttätig.
Sie stolperte über den Hof zur Pferdekoppel, wo Paul die Zügel eines tückisch wirkenden Braunen hielt. Sie war jetzt so lichtempfindlich, dass sie sogar abends eine Sonnenbrille tragen musste, um ihre Augen zu schützen. Es erforderte Mut, ins Tageslicht hinauszugehen, und sie fragte sich, wie Rafael es geschafft hatte, bei ihr zu bleiben, als der Stall abgebrannt war, oder schlimmer noch, als Ginny verschwunden war. Er musste furchtbare Qualen gelitten haben. Sie war nur zum Teil in seiner Welt, doch es fühlte sich an, als würden ihre Augen von unzähligen Nadelstichen getroffen.
Sie beobachtete, wie das Pferd nervös hin und her tänzelte. Seine Augen waren blutunterlaufen und misstrauisch. Paul hatte das Tier bereits gesattelt. Colby
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