Verführer der Nacht
hast unsere Freundschaft verraten. Kirja spie die Worte mit hasserfüllter Stimme aus. Er bewegte sich sehr schnell. Rafael empfing einen Eindruck von der Röhre, die steil nach unten führte, von ihrer geschwärzten Oberfläche. Der Vampir näherte sich gerade der Sicherheit des Berginneren. Genauso wie du sie damals verraten hast, als du diesem Dummkopf Vlad erlaubt hast, dich in deinen Untergang zu schicken. Er hat uns absichtlich getrennt. Das weißt du. Er hat uns buchstäblich ins Exil geschickt, während seine Günstlinge die Frauen bekamen und das Leben führten, das uns bestimmt war.
Rafael verhielt sich ruhig, während er in der kleineren Gestalt einer Fledermaus durch den Tunnel flog. Welche Falle Kirja auf seiner Flucht auch aufstellen mochte, es konnte nur eine unbedeutende sein, und in dem kleineren Körper hatte Rafael bessere Chancen, einem Hinterhalt auszuweichen. Der Lavastrom war in vielen Kurven und Windungen verlaufen, als er die Röhre gebildet hatte. Deshalb konnte man kaum erkennen, wie es weiterging. Rafael verließ sich darauf, dass ihn seine scharfen Sinne vor drohenden Gefahren warnen würden.
Nach einer Kehre veränderte sich abrupt die Oberflächenstruktur. Aus der harmlosen, seilartigen Oberfläche wurde loses Geröll mit scharfen Kanten und spitzen Vorsprüngen. Kir-ja hatte dafür gesorgt, dass jede Formation messerscharf war und alles zerschnitt, was sich durch die Röhre bewegte. Noch dazu wurde sie immer enger, je tiefer sie ins Erdinnere und das unterirdische Höhlensystem hineinführte. Selbst in der Gestalt der kleinen Fledermaus musste Rafael nun langsamer werden.
Er probierte etwas, das er seit Jahrhunderten nicht mehr praktiziert hatte. Als kleine Jungen hatten er und Kirja versucht, mit den Augen des anderen zu sehen, und zwar ohne Blut auszutauschen, einfach indem sie alle ihre Sinne auf den anderen konzentrierten. Im Lauf der Zeit und mit viel Übung war es ihnen gelungen. Obwohl er etwas eingerostet war, war Rafael jetzt viel mächtiger als damals als Kind. Vorsichtig rührte er an den Geist des Vampirs. Die Verbindung war fast sofort hergestellt, und Rafael war nicht auf das Ausmaß des glühenden Hasses und der Verschlagenheit vorbereitet, das ihm entgegenschlug. Kirja taumelte über die raue Oberfläche und versuchte dabei, die Röhre hinter sich zu verschließen. Er war durch seine Wunden viel schwerer angeschlagen, als Rafael angenommen hatte, sonst hätte er mehr Energie eingesetzt. Der Untote sparte seine Kräfte, falls es zum Kampf kommen sollte.
Mit angehaltenem Atem und äußerst behutsam drang Rafael durch den abgrundtiefen Hass und den verrotteten Kern durch und versuchte, etwas zu erkennen. Er musste sehen, was vor Kirja lag, um einen eigenen Hinterhalt zu legen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, die lange Bahn verkrusteter Lava zu entdecken, die er brauchte. Sofort verdünnte Rafael die Oberfläche, die mehrere Meter vor ihnen lag, wobei er die oberste Schicht glatt und eben aussehen ließ, aber dünn wie Papier machte. Unter dieser Oberfläche sammelte er Lava wie hinter einem behelfsmäßigen Damm. Ein Damm, der nicht lange halten würde.
So vorsichtig wie möglich zog Rafael sich aus Kirjas Bewusstsein zurück, um nicht zu verraten, dass er den Kontakt aufgenommen hatte. Er wusste genau, in welchem Moment der Vampir auf die dünne Oberfläche trat und einbrach. Ein grauenhafter Schrei erschütterte die Wände des Tunnels, und der widerwärtige Geruch von verbranntem Fleisch hing in der Luft. Nach zwei weiteren Biegungen starrte Rafael den Vampir an, der nur wenige Schritte von ihm entfernt war.
Kirja hievte sich gerade aus dem Loch. Seine Beine waren zu blutigen Stumpen verbrannt, und seine Haut fiel wie Asche von ihm herunter. Er richtete seinen hasserfüllten Blick auf Rafael. Deine Gefährtin wird mehr leiden, als je eine Frau gelitten hat. Er stieß das Versprechen mit einer rauen, schnarrenden Stimme aus. Jeder Anschein von Freundschaft war längst aufgegeben.
Rafael lief zu ihm, um Kirjas Schicksal zu besiegeln und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen, aber auf halbem Weg zu dem Untoten brach die ganze Röhre in sich zusammen, und das Erdreich verschob sich. Tonnen von Schutt und Geröll stürzten zwischen die beiden Gegner und trieben Rafael zurück. Er war gezwungen, seine Macht einzusetzen, um nicht unter den losen Gesteinsbrocken begraben zu werden: Er schuf eine schützende Höhle um sich herum und wartete, bis sich die Erde wieder
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