Verführer der Nacht
hier vorgeht, doch er hat sich verändert. Er ist nicht mehr so kalt wie früher, aber trotzdem noch gefährlicher. Und auch ich bin der Meinung, dass es etwas mit Colby Jansen zu tun hat. Es wird Mord und Totschlag geben, wenn sich das nicht bald aufklärt. Wir müssen Tag und Nacht auf der Hut sein«, fügte Juan hinzu.
Colby blieb auf der Treppe stehen und klammerte sich so fest an das Geländer, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Mord und Totschlag? Meinten sie Rafael? War er so gefährlich und brutal, dass sie sich seinetwegen Sorgen machen mussten? Sie ließ langsam ihren Atem entweichen. Rafael verfügte über unerwartete Fähigkeiten, genau wie sie. Diese besonderen Gaben waren nicht immer leicht zu kontrollieren, schon gar nicht, wenn zu viele Menschen in der Nähe waren. Emotionen spielten dabei eine sehr große Rolle. Früher, als sie noch viel jünger gewesen war, hatte sie manchmal »etwas angestellt«. Wenn sie aufgebracht oder wütend gewesen war, hatte sie mehr als einmal ein Feuer ausgelöst, einfach nur, weil sie jemanden oder etwas zu lange angestarrt hatte. Sie war für den furchtbaren Erdrutsch verantwortlich, der den Eingang zur Mine verschüttet und sie dort viele Stunden eingesperrt hatte. Immer wieder war es zu Vorfällen gekommen, die sie sehr geängstigt hatten.
Colby konnte verstehen, warum Rafael nicht gern unter Leuten war und die Freiheit der Wildnis vorzog. Das ständige Bombardement von Gerüchen und Geräuschen auf geschärfte Sinne war anstrengend und ermüdend. Sie liebte die Berge und brauchte die Zurückgezogenheit, die sie dort fand. Rafa-els Bruder Nicolas schien dieselben Gaben zu haben. Beide hatten beim ersten Kennenlernen auffallend kalt und skrupellos gewirkt. Sie hatte Nicolas nicht gemocht, aber Rafael ... Colby ging zu den Pferden, um sie zu begutachten. Ihr Herz machte einen seltsamen kleinen Satz, als sie an Rafael dachte, und Hitze strömte durch ihren Körper. Sie würde sich jetzt noch kein Urteil über ihn bilden.
Sie stellte sich seine Augen vor, die sie mit einem ungeheuren Hunger betrachteten. In diesen Momenten hatte er nicht kalt gewirkt. Und dann die Art, wie er mit Ginny umgegangen war: sanft und fürsorglich, sogar liebevoll. Rafael hatte heilende Kräfte. Er hatte die Tiere behandelt. Seine Hände waren schnell und geschickt gewesen, und die Pferde hatten sich in seiner Nähe beruhigt, als er ihnen etwas zugeraunt hatte. Aber dann konnte Rafael wieder eiskalt sein und so beängstigend wie eine Dschungelkatze, die ihre Beute belauert.
Colby untersuchte die Pferde noch einmal. Die Verbrennungen sahen nicht mehr so schlimm aus, und die Tiere waren ruhiger. Alle zeigten Symptome eines Traumas; sie zitterten und schwitzten, aber keines von ihnen schien an einer Rauchgasvergiftung zu leiden. Colby verbrachte eine Stunde damit, sich die Verletzungen anzuschauen und sie zu versorgen. Die Gefahr einer Infektion war sehr groß, und sie machte sich im Geist eine Notiz, den Tierarzt noch einmal kommen zu lassen, damit er sich vergewissern konnte, ob sich auch alle Pferde gut erholten. Die Tiere waren an sie gewöhnt und vertrauten ihr. Es war nicht zu übersehen, dass Colbys Nähe sie beruhigte.
Ihr entging nicht, dass die Brüder Chevez emsig damit beschäftigt waren, die Pferde zu tränken und zu füttern. Sie arbeiteten hart, statt auf der Veranda zu sitzen und zu schmollen, weil man ihnen befohlen hatte, hierzubleiben und auf die Kinder aufzupassen. Sie wirkten durchaus selbstbewusst und strahlten Autorität aus; dennoch befolgten sie Rafaels Befehl. Warum war das so? Geschah es aus freiem Willen? Oder hatten sie Angst vor ihm?
Colby ging zur Koppel, um eines ihrer Arbeitspferde zu satteln. Sie ging dabei mit dem Geschick langer Routine vor, doch sie war so müde, dass sie mit Telekinese gearbeitet hätte, wenn die Brüder Chevez sie nicht so scharf beobachtet hätten. Juan kam herangeschlendert und lehnte sich lässig ans Tor. Aus der Nähe sah er Armando so ähnlich, dass sie Angst hatte, in Tränen auszubrechen, wenn sie ihn direkt anschaute. Sie wurde viel zu emotional. Das war nicht ungefährlich.
»Was kann ich für Sie tun?« Sie wich seinem Blick aus.
»Welches Pferd soll ich nehmen?«, fragte er freundlich.
Auch seine Stimme und sein Akzent erinnerten sie stark an ihren Stiefvater. Colby wandte sich ab und starrte über den Rücken ihres Pferdes hinweg auf die schattigen Ausläufer der Berge. Obwohl die Sonne schien, war es dort
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