Verführer der Nacht
Leise. Eine schöne Sprachmelodie, die etwas tief in seinem Inneren berührte. Er hörte die Stimme, eine klangvolle Stimme, konnte aber die Worte nicht verstehen. Deshalb trat er näher an die Felskante. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit, und er betrachtete die Szene unten im Tal, seinen sengenden Blick auf Pferd und Reiterin geheftet. Benommen starrte er die zierliche Frau auf dem großen Pferd an. Es war beinahe siebzehnhundert Jahre her, seit Rafael Farben gesehen oder Gefühle empfunden hatte. Als er jetzt das Schauspiel auf der kleinen Koppel beobachtete, wo Pferd und Reiterin sich einen Kampf zu liefern schienen, wurde schlagartig alles anders.
Er sah ihr helles Haar, rot und golden wie eine lodernde Flamme. Er sah das verwaschene Blau ihrer Jeans und das blasse Rosa ihres Hemdes. Er sah das Pferd, das wie mattes Kupfer schimmerte. Es wirbelte herum und bockte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen, sodass sich jedes Detail tief in Rafaels Gedächtnis einprägte. Der silbrige Hauch auf den Blättern an den Bäumen, die Farben von Erde und Heu. Er sah die Silberschattierungen des Wassers, das in der Ferne in einem Teich schimmerte. Das alles zu sehen verschlug ihm den Atem, und er stand ganz still, wie ein Teil des Berges, auf dem er stand. Zum ersten Mal in seinem Leben war er wie erstarrt.
Hinter ihm rührte sich die Frau im Wagen, aber sie zählte nicht. Sie kam zu sich, schlaftrunken und in der Überzeugung, dass sie miteinander geschlafen hätten und sie von seiner Leidenschaft überwältigt worden wäre. Auch der halbwüchsige Junge und das Mädchen in der Nähe der Koppel zählten nicht. Seine Brüder, die zu Hause auf ihrer Ranch in Brasilien geblieben waren, Nicolas, der irgendwo in der Nähe wartete, die Familie Chevez – keiner von ihnen zählte. Nur die Reiterin.
Colby Jansen. Er wusste instinktiv, dass die Reiterin Colby war. Die junge Frau, die ihnen trotzte. Feuer und Eis wie die Berge, in denen sie lebte und die sie so leidenschaftlich liebte. Er beobachtete sie aus hungrigen Augen. Eine Weile bewegte er sich nicht. In seinem Inneren herrschte Chaos, und Gefühle stürmten schnell und heftig auf ihn ein. Gefühle, die sich Hunderte von Jahren in ihm angestaut hatten, strömten durch ihn wie heiße Lava und zwangen ihn, sich in atemberaubendem Tempo mit ihnen auseinanderzusetzen.
Er hatte vier Brüder, und sie alle konnten jederzeit telepathisch miteinander kommunizieren. Rafael griff auf den gemeinsamen geistigen Pfad zurück, den er und seine Brüder benutzten, um Nicolas diese Farbenpracht und den ungewohnten Gefühlsausbruch in seinem Inneren, die steigende Welle von Hunger mitzuteilen.
Nicolas hatte so etwas noch nie erlebt. Sie muss deine Gefährtin des Lebens sein, antwortete er.
Sie ist ein Mensch, keine Karpatianerin.
Es heißt, manche von ihnen können umgewandelt werden. Riordans Gefährtin war keine Karpatianerin.
Die Woge von Empfindungen und sexuellem Verlangen, die in ihm aufstieg, war überwältigend, ein Feuerball, der durch sein Inneres raste, sein Blut in Brand setzte und seine Sinne erregte. Rafael streckte sich wie eine große Raubkatze. Unter der dünnen Seide seines Hemdes strafften sich kräftige Muskeln. Colby Jansen gehörte ihm und keinem anderen. Er würde niemanden in ihrer Nähe dulden, weder die Chevez-Familie noch Nicolas, der sie als Erster gesehen hatte. Er spürte, wie sich das wilde Tier in seinem Inneren bei dem Gedanken an ein anderes männliches Wesen, ob sterblich oder unsterblich, in Colbys Nähe wild aufbäumte. Rafael stand regungslos da und zwang sich, seine Beherrschung zurückzu-erlangen. Er war zu jeder Zeit gefährlich, aber ihm war klar, dass er es in seiner jetzigen Verfassung umso mehr sein würde. Das ist ziemlich unangenehm, Nicolas. Ich bezweifle, ob ich es ertragen kann, wenn andere Männer in ihrer Nähe sind. Noch nie habe ich solche Eifersucht oder Furcht erlebt.
Es war eine Warnung, und beide Brüder erkannten es als solche. Einen Moment lang herrschte Schweigen.
Ich verschwinde von hier, Rafael, und ziehe mich in die hohen Berge im Osten zurück, um so lange zu warten, bis du das hier in den Griff bekommen hast. Wie immer war Nicolas beherrscht und gelassen und strahlte jene zuversichtliche Ruhe aus, die andere in die Richtung lenkte, die er vorgab. Nicolas äußerte seine Meinung nicht besonders oft, aber wenn er es tat, hörten seine Brüder auf ihn. Er war ein dunkler, gefährlicher Kämpfer und hatte es unzählige Male
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