Verführer oder Gentleman? (German Edition)
trieben Tränen in ihre Augen.
Natürlich hatte sie es von Anfang an gewusst – es war nur eine kurze Affäre ohne Zukunft gewesen. Und jetzt fühlte sie sich dank der räumlichen Distanz ein wenig erleichtert – trotz des zutiefst verletzten Stolzes und der brennenden Qual in ihrer Brust.
Eine Viertelstunde nach Juliets Abreise versammelte sich die gesamte Dienerschaft in der Eingangshalle von Lansdowne House und beantwortete die Fragen des Dukes. Wie es ihm im Lauf der strengen Verhöre bestätigt wurde, hatte Miss Lockwood am Vortag Besuch von ihrem Bruder bekommen. Kurz danach war Miss Geraldine Howard erschienen und ebenso wie der Gentleman zur Bibliothek geführt worden. Dort hatten beide jeweils mehrere Minuten allein verbracht. Zuerst Mr Lockwood, danach Miss Howard.
Am Nachmittag betrat ein sichtlich aufgeregter Thomas Howard das Haus, ein Päckchen in der Hand, und Dominic empfing ihn in seinem Arbeitszimmer.
„Was führt dich zu mir, Thomas?“
„Ich muss mit dir reden.“
„Worüber?“
Seufzend legte Thomas das Päckchen auf den Schreibtisch und nahm seinem Freund gegenüber Platz. „Darüber.“
Dominic hob fragend die Brauen. „Ist es das, was ich denke?“
„Ja, da drin findest du die Miniaturen. Da ich Geraldine kenne, ahnte ich sofort, wer hinter dem Verschwinden der Bilder steckt. Sobald wir daheim waren, stellte ich sie zur Rede. Schließlich gab sie den Diebstahl zu.“ Mit bebenden Fingern strich Thomas sich durchs Haar und verbarg nicht, wie peinlich ihm die Missetat seiner Schwester war. „Weil sie sich furchtbar über Charles’ Interesse an deiner Angestellten ärgerte, entwendete sie die Aquarelle, um Miss Lockwoods Bruder anzuschwärzen. Sie hoffte, das würde die junge Dame zur Kündigung bewegen.“
„Dann gratuliere ich Geraldine zu ihrer Niedertracht, Rachsucht und Ehrlosigkeit“, stieß Dominic hervor. „Denn sie hat einen vollen Erfolg erzielt – Miss Lockwood arbeitet nicht mehr für mich.“
„O Gott, das tut mir so leid …“
„Schon gut.“ Resignierend zuckte Dominic die Achseln. „Nun spielt es keine Rolle mehr. Und falls du mich bitten möchtest, Stillschweigen zu bewahren – das verspreche ich dir. Gewiss nicht, um deine Schwester vor übler Nachrede zu schützen. So, wie ich mich jetzt fühle, würde ich sie mit dem größten Vergnügen in den gesellschaftlichen Ruin stürzen. Aber ich nehme Rücksicht auf deine Eltern. Ich schätze die Freundschaft der beiden, und sie soll nicht unter dieser widerwärtigen Sache leiden.“
Von einer schweren Bürde befreit, atmete Thomas auf. „Tausend Dank, Dominic, ich kann gar nicht in Worte fassen, wie viel das für meine Familie bedeutet. Also kehren wir den unglückseligen Zwischenfall unter den Teppich. Ich schäme mich zutiefst für Geraldine. Wenn es herauskäme, was das dumme Mädchen angestellt hat, würde der Skandal den ganzen Bezirk erschüttern.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung. Nur eins noch.“
„Ja?“ Von neuer Angst erfasst, starrte Thomas seinen Freund an. In seinem verkrampften Kinn zitterte ein Muskel.
„Wenn Geraldine nur ein kleines bisschen Verstand besitzt“, begann Dominic mit frostiger Stimme, „wird sie mir in Zukunft tunlichst aus dem Weg gehen.“
In London angekommen, mietete Juliet eine Droschke und fuhr zu der Adresse, die Robby ihr gegeben hatte. Sein Freund, der ihn auf der Reise durch Europa begleitet hatte, bewohnte ein kleines, aber gut instand gehaltenes Haus.
Zu ihrer Erleichterung war ihr Bruder daheim. Erstaunt und erfreut empfing er sie. Aber nach einem Blick in ihr unglückliches Gesicht merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
Nachdem sie in seinem kleinen Zimmer Platz genommen hatte, schloss er die Tür, damit sie nicht vom restlichen Haushalt gestört wurden. Dann setzte er sich zu ihr auf das Sofa. „Irgendetwas bedrückt dich, Juliet, das sehe ich dir an. Erzähl mir alles.“
„Es wird dir nicht gefallen, weil es dich betrifft.“
Schweigend hörte er zu, während sie die Ereignisse schilderte, die sie nach London geführt hatten. Sobald er die Gefahr erkannte, die ihm drohte, sprang er entsetzt auf und beteuerte, von diesen Miniaturen wisse er nichts. Natürlich erfüllten ihn Miss Howards falsche Anschuldigungen, die ihn in Misskredit bringen sollten, mit heißem Zorn. Fast noch schlimmer fand er die Notlage seiner Schwester, denn sie hatte ihn verteidigen müssen und ihren angenehmen, lukrativen Arbeitsplatz in Lansdowne House
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