Verführer oder Gentleman? (German Edition)
Großer Gott! Mochte der Earl auch immer noch attraktiv aussehen, er war alt genug, um ihr Vater zu sein. Oder ihr Großvater.
„Du ziehst falsche Schlüsse, Dominic“, mahnte Cordelia. „Hat Juliet dir tatsächlich mitgeteilt, der Earl of Fairfax sei ihr Liebhaber?“
„Das war gar nicht nötig.“
„Vielleicht gibt es eine ganz harmlose Erklärung für ihre Bekanntschaft mit Fairfax.“
Dominic fixierte seine Schwester mit eisigen Augen. „Welche denn?“, stieß er hervor. „Um Himmels, sie hing an seinem Arm! Und alle Leute konnten es sehen!“ Von neuer Wut ergriffen, wandte er sich zur Seite. Die liebenswerte, ungekünstelte junge Frau, seine hingebungsvolle Gefährtin in einer einzigen überwältigenden Liebesnacht, hatte sich in ein gefühlskaltes, berechnendes, schönes Biest verwandelt.
Seufzend resignierte Cordelia und erinnerte sich an Dominics Tobsuchtsanfälle nach Amelias Tod. Niemals würde er Juliet eine Gelegenheit geben, ihn noch einmal zu verletzen. Wenn sie ihn wissentlich beschämt und sein Vertrauen missbraucht hatte – wovon er offensichtlich überzeugt war –, existierte sie nicht mehr für ihn. Oder sie konnte ihm beweisen, dass der Earl sie nicht als seine Geliebte aushielt.
Wieder im Haus am Piccadilly, versuchte Juliet erfolglos, die heitere Stimmung heraufzubeschwören, die sie in den letzten Wochen so sorgsam errungen hatte. Stattdessen trauerte sie über den Verlust ihrer Liebe. Ja, sie liebte Dominic Lansdowne ohne jeden Zweifel.
Wie konnte sie einen Mann lieben, der sie so unbarmherzig verletzte, demütigte und beleidigte? Anscheinend gab es keinen Schutz vor der Liebe, wenn man ihrer Macht erlegen war. Seit der zufälligen Begegnung in den Vauxhall Gardens, seit sie Dominics Blick erwidert hatte, gestand sie sich ihre tiefen Gefühle ein. Und dann der schreckliche Streit, der ihr das Herz zerriss …
So zerbrechlich war die neue Welt in der Obhut ihres Großvaters, wo sie sich sicher geglaubt hatte! Nur eine Illusion, zerplatzt wie eine Seifenblase – das hatten ihr wenige Minuten in Dominics Nähe deutlich gezeigt.
Nach der Abreise aus Lansdowne House hatte sie ihm voller Verachtung gezürnt, weil er nicht bereit gewesen war, Robbys Unschuld an dem Diebstahl zu akzeptieren. Unvorstellbar, welches Schicksal ihrem Bruder gedroht hätte, wären die kleinen Kunstwerke nicht mehr aufgetaucht … Aber ihr leidenschaftlicher Körper kümmerte sich nicht um die vernünftigen Warnungen ihres Gehirn, ihr heißes Blut hörte nicht auf, diesen Mann zu lieben und zu begehren – mochte sie sich auch noch so inständig bemühen, ihn zu vergessen.
Da Juliet nicht in lähmendem Selbstmitleid versinken wollte, überlegte sie, welches Kleid sie auf Lord Fitzherberts Ball tragen wollte. Aber während dieser Vorbereitungen quälte sie immer wieder der beunruhigende Gedanke, inmitten der Gästeschar könnte sie Dominic treffen.
Als der Tag des großen Festes anbrach und ihr Unbehagen wuchs, erkannte sie nicht zum ersten Mal, wie effektvoll der Duke ihr Seelenleben durcheinandergebracht hatte. Manchmal kam sie sich vor wie ein Tennisball, glaubte, von einem Racket abzuprallen, ohne zu wissen, wo sie landen würde. Solche verwirrenden Emotionen wollte sie an diesem Abend nicht schon wieder erleiden.
Nach einem letzten kritischen Blick in den hohen Spiegel nahm sie von ihrer Zofe einen Fächer und ein Retikül entgegen. Dann eilte sie nach unten in den Salon, wo ihr Großvater geduldig wartete.
„Wir müssen gehen“, drängte sie. „Sonst verspäten wir uns.“
„Lassen wir uns noch etwas Zeit, meine Liebe.“ Anerkennend musterte er ihr elegantes Kleid, die kunstvoll hochgesteckten schimmernden Locken. „Du siehst atemberaubend aus. Wenn du den Saal betrittst, sollen die meisten Leute bereits versammelt sein.“ Strahlend lächelte er sie an. „Nicht zu fassen – plötzlich fühle ich mich um zwanzig Jahre jünger.“
Seine Bewunderung stärkte ihr gefährdetes Selbstvertrauen. „Genau so wirkt deine äußere Erscheinung“, meinte sie und betrachtete wohlgefällig seinen schwarzen Abendfrack. Im Krawattentuch steckte eine Diamantnadel, die mit seinen Augen um die Wette funkelte. Sein dichtes weißes Haar war glatt zurückgekämmt. In der Tat, für seine fortgeschrittenen Jahre war er ein erstaunlich gut aussehender Mann.
„So stolz bin ich“, gestand er. „Heute Abend begleite ich meine bildschöne Enkelin zu ihrem ersten Ball. Übrigens, kannst du tanzen?
Weitere Kostenlose Bücher