Verführerische Maskerade
Erwartest du seinen Besuch?« Sie musterte Livia eindringlich.
»Ich habe ihn im Park getroffen. Und er hat angedeutet, dass er mich besuchen will«, erwiderte Livia unbestimmt. »Aber keine feste Verabredung.«
»Verstehe«, wiederholte Aurelia, obwohl sie noch immer keinen Schimmer hatte. »Aber wenn ich hierbleiben soll, wer spielt dann die Anstandsdame bei deinem Ausritt mit dem Prinzen?«
Livia zuckte die Schultern. »Ellie, ich brauche keine Anstandsdame. Niemand wird uns beobachten, und überhaupt muss niemand davon erfahren.«
Aurelia schüttelte den Kopf. »Wie kannst du dir da sicher sein? Wenn man dich sieht, wie du allein mit dem Prinzen aus der Stadt reitest, hast du den ganzen Tratsch am Hals. Deinem guten Ruf wirst du damit sicher keinen Gefallen tun. Ein Ausritt in den Hyde Park unter den Augen der Öffentlichkeit ist eine Sache. Aber es ist eine ganz andere, sich in die Einsamkeit Richmonds zurückzuziehen.«
Livia nagte an ihrer Unterlippe und dachte nach. Ihre Freundin hatte natürlich Recht. Aber als der Prinz und sie sich verabredet hatten, hatten sie ganz bestimmt keinen schicklichen Ausritt mit Anstandsdame im Sinn gehabt. Es war nicht so, dass sie Ellies Gesellschaft nicht genoss, ganz im Gegenteil; aber sie konnte darauf verzichten, wenn es ihr um den aufregenden Kitzel ging, um das Gefühl, mit dem Feuer zu spielen. Und genau das passierte bei ihren Begegnungen mit Alexander Prokov. Es hatte seine Zeit gedauert, bis sie den Mut gefunden hatte, sich die Tatsache einzugestehen, wie sie insgeheim zugeben musste. Aber jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben. Schicklichkeit und Anstand passten nicht in die Welt des russischen Prinzen, und genau das war es, was sie innerlich so sehr erregte, dass die nervöse Vorfreude ihr beinahe den letzten Nerv raubte. Es gab genügend Männer, mit denen sie unter Ellies Begleitung einen Ausritt in den Richmond Park machen wollte. Alexander Prokov gehörte nicht dazu.
Livia wurde sich bewusst, dass Aurelia sie durchdringend musterte. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Ich nehme eine Droschke nach Richmond«, kündigte sie an, »selbst wenn mich jemand darin sieht, weiß er noch lange nicht, wohin die Reise geht. Und wenn ich erst mal außerhalb der Stadt bin, kennt mich sowieso niemand«, erklärte sie schließlich. »Ich treffe Alex und die Pferde im Park. Nach dem Ausritt kehre ich in einer anderen Droschke zurück. Niemand wird Verdacht schöpfen.«
»Nein, niemand«, bemerkte Aurelia sarkastisch, »du musst natürlich auf den verstecktesten Wegen reiten, nur dort, wo sonst kein Mensch sich herumtreibt. Ich nehme an, genau darauf kommt es dir an.« Sie kniff die Brauen zusammen.
»Ja, das scheint mir auch so«, stimmte Livia zu, und ihre Wangen schimmerten noch intensiver. »Ellie, wir tun niemandem weh.«
Aurelia zuckte die Schultern. »Wenn du meinst, Liv. Ich bin nicht für dich verantwortlich. Du musst wissen, was du tust.«
Livia lachte auf. »Glaubst du im Ernst, dass ich es weiß? Ich bin mir da nicht sicher.«
»Liv, es ist nicht an mir, dir eine Moralpredigt zu halten«, beschwichtigte ihre Freundin lächelnd. »Wir haben auch nicht gezetert, als Harry an Nells Fenster Casanova gespielt hat. Wenn du dich unter den Bäumen von Richmond auf eine Affäre mit einem russischen Prinzen einlassen willst, bitte sehr. Ich warne dich nur vor dem feuchten Rasen.«
Livia lächelte erleichtert. »Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Aber ich stelle mir das Unternehmen doch ziemlich aufregend vor.«
6
D as Siegel des Zaren prangte auf der Botschaft, die auf Alex wartete, als er seine Wohnung betrat. Er griff nach dem Brieföffner, schlitzte das Siegel auf und entdeckte die regelmäßigen Schriftzüge des Zaren auf dem entfalteten Blatt.
Mein lieber Freund. Alex zuckte innerlich zusammen. Der Zar hatte ihn immer wie einen älteren Bruder umarmt … es sei denn, die Umstände verlangten eine respektablere Haltung … es sei denn, er war der Auffassung, dass Alex die Grenzen der Freundschaft durch ungebetene Ratschläge und schwach bemäntelte Kritik überschritten hatte. Dann benahm er sich auf geradezu frostige Weise kaiserlich und hatte nicht die geringste Scheu, seine »Freunde« daran zu erinnern, wie prekär ihre Stellung bei Hofe war. Einzig und allein der Kaiser hatte darüber zu befinden, wie weit die Freundschaft reichte. Anders als seine Großmutter war Alexander I. nicht in der Lage, auf seine Freunde zu hören;
Weitere Kostenlose Bücher