Verfuehrt
so schlecht geht, dann geht es ihm auch schlecht. Ich weiß, wie sehr er an ihr hängt. Und deshalb muss ich nicht nur Valentinas Bitte erfüllen – ich muss auch zu ihm. Es ist ein Gefühl, gegen das ich nichts tun kann, es ist wie ein Zwang, und es ist viel stärker als meine Wut auf ihn, stärker als meine Bedenken und meine Zweifel. Vielleicht brauchte es erst diese Nachricht, um mir klarzumachen, dass meine Gefühle für ihn sich nicht geändert haben – obwohl er mich so verletzt hat und trotz meiner Wut auf ihn.
Aber wie sieht Matteo das? Wird er sich freuen, mich zu sehen? Weiß er überhaupt, dass ich komme? Ich habe absolut keine Ahnung, was mich in der Klinik erwartet, in der Valentina liegt, ich weiß nicht mal, ob ich so spät dort überhaupt noch erscheinen kann. Paola hat mir nur die Adresse durchgegeben, doch ich habe sie danach nicht mehr erreicht, konnte ihr nur kurz eine SMS mit meinen Flugdaten schicken und sie wissen lassen, dass ich auf dem Weg bin. Da ich mein Handy im Flugzeug natürlich nicht benutzen darf, kann ich nicht nachsehen, ob sie darauf geantwortet hat, und ich kann es auch nicht noch mal bei ihr versuchen, um an Neuigkeiten über Valentinas Zustand zu kommen. Ich weiß nichts, absolut nichts, und die Ungewissheit bringt mich um.
Aber genau das ist das hier, denke ich, während ich auf die Lichter der Stadt hinausstarre, die jetzt unter uns aufgetaucht sind und immer heller werden, je tiefer wir sinken. Eine Landung im Ungewissen …
Ich glaube, ich bin noch nie so spontan irgendwo hingeflogen, ohne Rückflugticket, ohne Hotel, ohne Plan. Und das mulmige Gefühl, das mich die ganze Zeit begleitet, wird stärker, droht mich fast zu überwältigen, als wir kurz darauf gelandet sind und ich auf dem langen Weg zur Gepäckausgabe mein Handy wieder anschalte. Ich habe keine SMS, es hat niemand angerufen, und als ich Paolas Nummer wähle, nachdem mein Smartphone sich in das italienische Netz eingebucht hat, geht wieder nur ihre Mailbox dran. Vermutlich heißt das, dass sie nach wie vor bei Valentina im Krankenhaus ist, und ich beschließe, es noch mal zu versuchen, wenn ich durch die ganzen Kontrollen bin.
Doch als ich schließlich, nach endlosen Minuten des Wartens am Gepäckband, mit meinem Rollkoffer durch die Schiebetüren in die Ankunftshalle des Flughafens trete, stelle ich fest, dass man mich doch schon erwartet. Denn Giacomo di Chessa steht, auf einen Stock gestützt, hinter der Absperrung und sieht mir lächelnd entgegen.
»Giacomo!« Ich bin so erleichtert, ihn zu sehen, dass ich auf ihn zulaufe und ihn umarme, was vielleicht nicht ganz angebracht ist, wenn man bedenkt, dass der ehemalige Dekan des Kunsthistorischen Instituts der La Sapienza eigentlich ein Kunde des Auktionshauses ist. Aber unser Verhältnis ist während meines letzten Aufenthalts in Rom sehr eng und eher freundschaftlich geworden.
Ich mochte ihn von Anfang an, und da ich jeden Tag bei ihm war und mit ihm seine Bildersammlung gesichtet habe, die er demnächst von uns versteigern lassen will, haben wir uns sehr gut kennen und schätzen gelernt. Und jetzt gerade ist er so etwas wie ein Rettungsanker für mich, weil ich mich schlagartig nicht mehr so verloren fühle.
Er sieht besser aus als beim letzten Mal, erholter und nicht mehr so blass, auch wenn seine hagere Figur und sein weißes Haar ihn immer noch irgendwie zerbrechlich wirken lassen. Nur sein Lächeln ist matter als sonst.
»Es ist so schön, Sie zu sehen, Sophie – Sie sehen entzückend aus«, sagt er, ganz der italienische Charmeur. Dabei fühle ich mich eigentlich ziemlich zerknautscht, und mein schwarzer Rock und die rote Bluse, die ich heute schon den ganzen Tag trage – ich bin so eilig aufgebrochen, dass ich mich nicht mehr umziehen konnte –, sind es nach dem hastigen Aufbruch und dem Flug definitiv.
Trotzdem muntern seine Worte mich auf, deshalb erwidere ich sein Lächeln. Er wird jedoch schnell wieder ernst. »Ich wünschte nur, die Umstände unseres Wiedersehens wären nicht so furchtbar«, sagt er und erinnert mich wieder an den Grund meines Besuchs.
»Wie geht es Valentina?«
Giacomo zuckt mit den Schultern. »Das muss sich noch zeigen. Es war ein zweiter Eingriff nötig, den sie gut überstanden hat, aber ihr Zustand ist weiter kritisch. Wir müssen abwarten, ob keine Komplikationen auftreten, dann wird sie es vermutlich schaffen.« Über die andere Alternative will er offenbar gar nicht reden, denn er hakt sich bei mir ein
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