Verführt von einer Lady
die doch ohnehin schon so angespannt war.
Sobald sie angekommen waren, hatte ihr Vater sie am Arm gepackt und ihr eine letzte Predigt zukommen lassen, in der es um Väter und Töchter ging und wie sich ihre Beziehungen zu gestalten hätten, ganz zu schweigen von den aufgeblasenen Sätzen zu hochherrschaftlichen Vermächtnissen, Familienfortüne und den Pflichten gegenüber der Krone.
Das alles wurde ihr ins Ohr gezischt, und zwar in weniger als einer Minute. Wenn sie im Verlauf der letzten Woche nicht gezwungen gewesen wäre, viele vergleichbare Vorträge über sich ergehen zu lassen, hätte sie kein Wort verstanden.
Sie hatte ihm klarzumachen versucht, dass Thomas und Jack das untereinander ausmachen müssten, dass sie dabei kein Publikum brauchen konnten, aber im nächsten Augenblick spielte das ohnehin keine Rolle mehr. Die Herzoginwitwe war wie immer vorangestürmt, und Amelia hörte, wie sie brüllte: „Wo ist es?“
Amelia sah sich zu Grace und Mrs. Audley um, die ihnen in einigen Schritten Entfernung voll Entsetzen folgten. Aber bevor sie etwas sagen konnte, riss ihr Vater sie am Arm, und sie stolperte hinter ihm über die Schwelle.
Inmitten des Raums stand eine Frau. Sie hielt eine Teetasse in der Hand, und ihr Gesichtsausdruck bewegte sich irgendwo zwischen Schrecken und Besorgnis. Vermutlich die Haushälterin. Amelia hatte keine Zeit, sie zu fragen. Ihr Vater zog sie immer noch hinter sich her; er schien fest entschlossen, der Herzoginwitwe keinen allzu großen Vorsprung zu lassen.
„Beweg dich“, knurrte er sie an, aber in ihr war inzwischen eine seltsame, fast übernatürliche Panik aufgestiegen. Sie wollte diesen Raum nicht betreten.
„Vater …“, setzte sie an, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen.
Thomas .
Da stand er, direkt vor ihr, nachdem ihr Vater sie durch die Tür gezerrt hatte. Er stand sehr still, seine Miene war ganz ausdruckslos, und sein Blick war auf einen Fleck an der Wand gerichtet, wo es überhaupt nichts zu sehen gab.
Amelia unterdrückte einen Schrei. Er hatte den Titel verloren. Er brauchte gar nichts zu sagen, musste sie nicht einmal anschauen. Sie sah es ihm einfach an.
„Wie könnt ihr es wagen, ohne mich aufzubrechen?“, tobte die Herzoginwitwe. „Wo ist es? Ich verlange, das Register zu sehen!“
Niemand sagte etwas. Thomas stand noch genauso stolz und steif da wie der Herzog, für den sie ihn alle gehalten hatten, und Jack – lieber Himmel, der sah richtiggehend krank aus. Sein Gesicht war puterrot, und sein Atem ging viel zu schnell.
„Wie lautet das Ergebnis?“, rief die Herzoginwitwe schrill.
Amelia starrte Thomas an. Der sagte nichts.
„Er ist der Herzog“, erklärte Jack schließlich. „Genau wie es sein sollte.“
Amelia keuchte. Sie hoffte, betete darum, dass sie Thomas’ Gesichtsausdruck falsch interpretiert hatte. Ihr ging es dabei nicht um den Titel oder den Besitz. Sie wollte nur ihn, aber er war ja zu stolz, sich an sie zu binden, wenn er nicht mehr war als Mr. Thomas Cavendish, Gentleman aus Lincolnshire.
Die Dowager Duchess wandte sich scharf an Thomas. „Ist das wahr?“
Thomas schwieg.
Die Herzoginwitwe wiederholte ihre Frage und packte Thomas dabei so wild am Arm, dass Amelia zusammenzuckte.
„Es gibt keinerlei schriftlichen Nachweis für die Eheschließung“, beharrte Jack.
Thomas schwieg.
„Thomas ist der rechtmäßige Duke“, sagte Jack noch einmal, aber er klang verängstigt. Verzweifelt. „Warum hört ihr denn nicht? Warum hört mir denn keiner zu?“
Amelia hielt den Atem an.
„Er lügt“, erklärte Thomas leise.
Amelia schluckte, damit sie nicht anfing zu weinen.
„Nein“, widersprach Jack, „ich sage doch …“
„Ach, um Himmels willen“, fuhr Thomas ihn an. „Glaubst du, niemand wird es herausfinden? Sicher gibt es Zeugen. Glaubst du wirklich, niemand war bei der Hochzeit dabei? Meine Güte, du kannst die Vergangenheit nicht verändern.“ Er sah ins Feuer. „Oder verbrennen, je nachdem.“
Amelia sah ihn an, und plötzlich wurde ihr klar, dass er auch hätte lügen können.
Er hätte lügen können. Aber er tat es nicht.
Wenn er gelogen hätte …
„Er hat die Seite aus dem Register gerissen“, sagte Thomas. Seine Stimme klang merkwürdig monoton und teilnahmslos. „Und ins Feuer geworfen.“
Wie auf Kommando drehten sich alle um und blickten in die knisternden Flammen. Aber dort gab es nichts zu sehen, nicht einmal die schwarzen Rußflocken, die aufstieben, wenn man Papier
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