Verführt von einer Lady
den Fremden an, dann seine Großmutter und schließlich wieder den Fremden. „Was zum Teufel ist hier eigentlich los?“
Darauf bekam er keine Antwort, und so fragte er die einzige Person, die in seinen Augen vertrauenswürdig war. „Grace?“
Sie wich seinem Blick aus. „Euer Gnaden“, bat sie in stiller Verzweiflung, „vielleicht könnte ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?“
„Und uns anderen den Spaß verderben?“, wandte Mr. Audley ein und stieß ein selbstgerechtes Schnauben aus. „Nach allem, was ich durchgemacht habe …“
Thomas blickte zu seiner Großmutter.
„Er ist dein Vetter“, erklärte sie scharf.
Er stutzte. Sicher hatte er sich verhört. Er schaute zu Grace, doch die fügte hinzu: „Er ist der Straßenräuber.“
Während Thomas noch damit beschäftigt war, das zu verdauen, drehte sich der unverschämte Kerl um, sodass alle seine gefesselten Hände sehen konnten, und sagte: „Und nicht freiwillig hier. Das können Sie mir glauben.“
„Ihre Großmutter dachte, sie hätte ihn gestern Nacht erkannt“, sagte Grace.
„Ich habe ihn erkannt“, erklärte die Herzoginwitwe wütend. Sie wies auf den Straßenräuber. „Sieh ihn dir doch nur an.“
Der Straßenräuber sagte zu Thomas, als wäre er ebenso ratlos wie die anderen: „Ich habe eine Maske getragen.“
Thomas führte die linke Hand an die Stirn und presste die Finger heftig gegen die Schläfen, um das Dröhnen zu vertreiben, das sich in seinem Kopf eingestellt hatte. Lieber Himmel. Und dann dachte er – das Porträt.
„Cecil!“, schrie er.
Ein Lakai kam mit bemerkenswerter Geschwindigkeit herbeigetrabt.
„Das Porträt“, knurrte Thomas. „Von meinem Onkel.“
Der Adamsapfel des Lakaien hüpfte betroffen auf und ab. „Das, das wir eben hinauf …“
„Ja. In den Salon damit.“ Und als Cecil sich darauf nicht gleich in Bewegung setzte, schrie er: „Sofort!“
Da spürte er, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. „Thomas“, sagte Grace leise, offenbar um ihn zu beruhigen, „lassen Sie mich bitte erklären.“
„Haben Sie davon gewusst?“, fragte er und schüttelte sie ab.
„Ja, aber …“
Er konnte es nicht fassen. Grace. Der einzige Mensch, dem er absolut vertraute. „Letzte Nacht“, vergewisserte er sich, während ihm gleichzeitig bewusst wurde, wie kostbar diese Nacht für ihn gewesen war. In seinem Leben gab es nicht viele reine, unverstellte Augenblicke der Freundschaft. Der Moment auf der Treppe, so bizarr er auch gewesen war, hatte dazugehört. Das erklärte wohl auch das schmerzliche Gefühl, das ihn überkam, als er in ihr schuldbewusstes Gesicht blickte. „Haben Sie davon gewusst?“
„Ja, aber Thomas …“
„Genug“, fuhr er sie an. „In den Salon. Alle miteinander.“
Grace bemühte sich darum, noch einmal bei ihm Gehör zu finden, doch er ignorierte sie. Mr. Audley – sein Blutsverwandter! – hatte die Lippen gespitzt, als könnte er jeden Augenblick eine fröhliche Melodie pfeifen. Und seine Großmutter … nun, nur der Teufel wusste, was sie dachte. Sie sah aus, als hätte sie leichte Magenschmerzen, aber so sah sie eigentlich immer aus. Doch sie beobachtete Audley mit einer Intensität, die ihm Angst machte. Audley schien ihr wildes Starren gar nicht zu bemerken. Er war zu sehr damit beschäftigt, Grace verliebte Blicke zuzuwerfen.
Die ihrerseits sehr elend aussah. Geschah ihr recht.
Thomas fluchte leise in sich hinein und schlug die Salontür hinter sich zu, nachdem sich alle dort versammelt hatten. Audley hielt die Hände hoch und legte den Kopf schief. „Dürfte ich wohl darum bitten …“
„Herr im Himmel“, brummte Thomas und griff sich vom nächstbesten Tisch einen Brieföffner. Dann nahm er Audleys Hände und durchtrennte die Fesseln mit einem einzigen zornigen Schnitt.
„Thomas“, sagte Grace und stellte sich vor ihm auf, „ich finde wirklich, dass Sie mir einen Moment unter vier Augen gewähren sollten, bevor …“
„Wovor?“, fuhr er sie an. „Bevor ich von einem weiteren verschollenen Vetter erfahre, hinter dem der König her ist?“
„Der König wohl eher nicht“, meinte Audley milde, „aber ein paar Friedensrichter. Und der eine oder andere Pfarrer.“ Er wandte sich an die Herzoginwitwe. „Gemeinhin wird Straßenraub als kein besonders sicheres Gewerbe angesehen.“
„Thomas.“ Grace warf der Herzoginwitwe, die sie finster musterte, einen nervösen Blick zu. „Euer Gnaden“, korrigierte sie sich rasch, „es gibt da etwas,
Weitere Kostenlose Bücher