Verführt von einer Lady
war? Thomas ballte die Fäuste und entspannte sich dann wieder, während er versuchte, sich zu beruhigen. „Würde mir irgendwer bitte erklären“, fragte er knapp, „wie es dazu kam, dass dieser Mann in meinem Salon steht?“
Die erste Reaktion bestand im allgemeinen Schweigen, da alle darauf warteten, dass ein anderer das Wort ergriff. Dann zuckte Audley mit den Schultern, nickte zur Herzoginwitwe und sagte: „Sie hat mich entführt.“
Langsam drehte Thomas sich zu seiner Großmutter um. „Du hast ihn entführt“, wiederholte er, nicht weil das so unglaublich war, sondern weil es ihm im Gegenteil nur zu leichtfiel, es zu glauben.
„Allerdings“, erwiderte sie scharf. „Und ich würde es jederzeit wieder tun.“
Thomas sah Grace an. „Es stimmt“, sagte sie. Und dann wandte sie sich – verdammte Hölle – zu Audley um und meinte: „Tut mir leid.“
„Entschuldigung angenommen“, erwiderte dieser, und das so charmant, dass er damit auch im anspruchsvollsten Ballsaal durchgekommen wäre.
Die Empörung musste sich in Thomas’ Miene gezeigt haben, denn nach einem Blick auf ihn fügte Grace hinzu: „Sie hat ihn entführt !“
Thomas rollte nur mit den Augen. Er hatte nicht den Wunsch, darüber zu sprechen.
„Und mich hat sie zum Mitmachen gezwungen“, brummte Grace in sich hinein.
„Ich habe ihn gestern Abend erkannt“, verkündete die Herzoginwitwe.
„Im Dunkeln?“, fragte Thomas zweifelnd.
„Und unter der Maske“, erwiderte sie stolz. „Er ist seinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Seine Stimme, sein Lachen, einfach alles.“
Jetzt ergab das alles natürlich einen Sinn. Das Porträt, ihre Verstörtheit in der Nacht davor. Thomas stieß die Luft aus, schloss die Augen und nahm irgendwie alle Energie zusammen, um sie mit sanftem Mitgefühl zu behandeln. „Großmutter“, sagte er, was durchaus als Ölzweig gemeint war, da er sie normalerweise nur mit „du“ anredete, „mir ist schon klar, dass du immer noch um deinen Sohn trauerst …“
„Deinen Onkel“, unterbrach sie ihn.
„Meinen Onkel“, korrigierte er sich, obwohl es ihm schwerfiel, den Mann als seinen Onkel zu betrachten, schließlich hatte er ihn nie kennengelernt. „Aber seit seinem Tod sind dreißig Jahre vergangen.“
„Neunundzwanzig“, korrigierte sie scharf.
Thomas sah zu Grace hinüber, wobei er sich nicht ganz sicher war, was er sich von ihr erwartete. Unterstützung? Anteilnahme? Sie presste, Verzeihung heischend, die Lippen zusammen, äußerte sich indes nicht.
Er wandte sich wieder an seine Großmutter. „Jedenfalls eine lange Zeit. Erinnerungen verblassen doch.“
„Meine nicht“, erwiderte sie hochmütig, „vor allem nicht die an John. Deinen Vater hingegen habe ich nur zu gern vergessen …“
„Darin sind wir uns einig“, unterbrach Thomas sie angespannt, denn das Einzige, was noch absurder gewesen wäre als die gegenwärtige Situation, war die Vorstellung, dass sein Vater anwesend wäre, um sie zu bezeugen.
„Cecil!“, rief er noch einmal und ballte die Fäuste, damit er nicht dem Drang nachgab, irgendwen zu erwürgen. Wo zur Hölle blieb das verdammte Gemälde? Er hatte den Lakaien schon vor Ewigkeiten nach oben geschickt. Eigentlich hätte es eine ganz einfache Sache sein sollen. Seine Großmutter war doch bestimmt noch nicht dazu gekommen, das Bild in ihrem Schlafzimmer aufhängen zu lassen.
„Euer Gnaden“, hörte er aus dem Flur, und dann kam das Gemälde zum zweiten Mal an diesem Nachmittag in Sicht, als die zwei Lakaien es mühsam hereinschleppten.
„Stellen Sie es irgendwo ab“, ordnete Thomas an.
Die Lakaien setzten das Bild an einem freien Platz zu Boden und lehnten es vorsichtig an die Wand. Und zum zweiten Mal sah John ins Angesicht seines lange verstorbenen Onkels John.
Diesmal jedoch war es völlig anders. Wie oft war er an dem Porträt vorbeigegangen, ohne näher hinzusehen? Warum sollte er auch? Er hatte den Mann nicht gekannt, hatte nie Grund, in seiner Miene irgendetwas Vertrautes zu entdecken.
Aber jetzt …
Grace war die Erste, welche es in Worte fasste. „O Gott.“
Schockiert schaute Thomas auf Mr. Audley. Er war dem Mann auf dem Bild wie aus dem Gesicht geschnitten.
„Wie ich sehe, widerspricht mir nun niemand mehr“, beobachtete die Herzoginwitwe selbstzufrieden.
„Wer sind Sie?“, flüsterte Thomas und starrte den Mann an, der wahrhaftig nur sein Cousin sein konnte.
„Mein Name“, stammelte der und konnte den Blick nicht von dem Bildnis
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